Herz über Kopf

Kapitel 2

Eine erfreuliche Ruhestörung

Das verdammte Stück Technik gehorchte einfach nicht und spuckte immer mehr Wasser aus. Stattdessen verbrühte sie sich die Hände. Verdammte Kochwäsche!

„Was machst du denn da, Mazaki?", fuhr er sie an und versuchte sie aus der Gefahrenzone zu ziehen.

Dabei packte er sie am Arm und zog sie nach hinten. Die junge Frau, die nicht damit gerechnet hatte, klammerte sich an die Schulter des CEO und riss ihn mit sich. Dieser rutschte aufgrund ihres Körpergewichtes, welches ihn nach hinten zog, auf der Wasserlache aus und drohte zu fallen. Reflexartig versuchte Anzu irgendetwas zu greifen, was sie vor einem bösen Sturz bewahren würde. Und tatsächlich spürte sie etwas dünnes, aber festes in ihren Hände und packte zu. Was es war, wusste sie nicht, Hauptsache sie würde nicht ebenso hart aufschlagen wie ihre männliche Gesellschaft. Kaiba prallte zunächst mit dem Rücken anschließend mit dem Kopf gegen einen massiven Gitterschrank, in dem sich Reinigungsutensilien der Putzkolonne befanden. Diese fielen purzelnd zu Boden. Der laute Schlag war unüberhörbar. Er musste sich verletzt haben. Zumindest ließ ein kurzes, unterdrücktes Stöhnen darauf schließen. Anzu selbst stand noch halb auf den Beinen, halb hing sie in der Luft. Das undefinierbare dünne Etwas hatte sie gerettet.

Erleichtert atmete sie auf, bis Kaiba sie mit geweiteten Augen ansah.

„Mazaki...nicht bewegen…"

Er versuchte ruhig zu klingen, doch irgendetwas schien ihn zu stören. Anzu verstand es nicht. Der CEO war doch sonst immer so ruhig und kontrolliert. Langsam richtete er sich auf. Unterdrückte den Schmerz in seinem Körper und ließ die junge Frau vor sich keine Sekunde aus den Augen.

„Was ist den...?", wollte sie sagen, brach aber je ab, als sie merkte, dass ihr Halt langsam nachgab.

Verwundert folgte sie der schneeweißen Schnurr, welche sie in der Hand hielt zu seinem Ende. Dieses war an der Wand mit dünnen Ringen notgedrungen befestigt. Anzu hielt nicht einfach eine Seil oder Ähnliches in der Hand, nein, es war ein Stromkabel. Sie musste es bei ihrem Rettungsversuch aus der Steckdose gerissen haben und konnte von Glück reden, nicht bereits jetzt einen Schlag bekommen zu haben. Stück für Stück gab es langsam ihrem Gewicht nach und würde sie bald ganz fallen lassen. Die dünnen Ringe sahen jedenfalls nicht sehr stabil aus. Und auch erst jetzt wurde sie sich der Tatsache bewusst, dass sie noch immer in einer ziemlich großen Wasserlache stand. Mit vor Angst geweiteten Augen klammerte sie sich noch mehr an das Kabel.

„Gib mir deine Hand...", kam der befehlende Ton des CEO, der keinen Widerspruch zuließ.

Dieser stand ebenfalls bis zu den Knöcheln im Wasser und reichte ihr die Hand. War das wirklich sein Ernst? Wollte er auch seine Gesundheit, wenn nicht sogar sein Leben aufs Spiel setzten um Anzu zu helfen? Um ihres zu retten? Fest stand, die junge Tänzerin würde hier nicht allein wieder rauskommen. Würde sie das Kabel loslassen, würde es sofort ins Wasser fallen. Doch hielt sie es weiter fest oder sich noch daran hochziehen, würde es irgendwann aus der Wand reißen und sie so oder ins Unheil stürzen.

„Gib mir deine Hand, Anzu!", fuhr er sie unbeherrscht an.

Sie zuckte zusammen, ehe seine große Hand neben ihr auftauchte. Aber war das ihre Rettung? Er war doch selbst in Gefahr. Würden sie es schaffen? Wären sie schnell genug aus dem Wasser raus, ehe der Strom sie erreichen würde? Nein, dass würden sie niemals schaffen.

„Verschwinde Kaiba! Rette dich und hol Hilfe. Wir schaffen's nicht alleine."

„Fang jetzt nicht an die Heldin zu spielen. Nimm meine Hand, jetzt mach endlich."

Ehe sie antworten konnte, riss eine der Halterung und sie stürzte tiefer. Panisch die Augen zukneifend wartete sie auf ihr sicheres Ende, doch es bleib aus.

Knapp schwebte sie noch über dem Boden. Doch würde der nächste Ring reißen, wäre alles aus. Zitternd blickte sie zu Kaiba. Dieser hatte seine Hand keine Sekunde zurückgezogen und steckte sich weiterhin zu ihr. Mit der anderen Hand hielt er sich an einer dünnen Rohrleitung fest, um Anzu zu erreichen.

„Kaiba...was wäre...wenn du den Strom abstellen würdest? Das könnte uns retten! Du schaffst das sicherlich."

„Der Verteilerkasten liegt am anderen Ende des Kellers. Bis ich dort bin und die richtige Sicherung gefunden habe, könntest du tot sein.", gab er zu bedenken.

Anzu sah es ein. Er war ihre einzige Chance. Den letzten Rest Mut zusammennehmend packte sie seine Hand. Eine weise Entscheidung. Genau in diesem Moment, als das Kabel noch mehr ihres Gewichts zu tragen hatte, riss es endgültig von der Wand. Mit aller Kraft klammerte sie sich an den CEO, welcher sie mit sich in eine trockene Ecke des Raumes zog und die junge Frau an die Wand presste. Schützend stellte er sich vor sich. Schirmte sie mit seinem Körper vor sämtlichen Gefahren ab. Mit einem kräftigen Knall entlud sich die Elektrizität im Wasser auf dem Boden. Das Licht über ihnen sprühte Funken ehe die Birne durchbrannte und es klirrte. Dann standen sie im Dunklen. Beide konnten nur noch ihre rasenden Atemzüge vernehmen. Erst jetzt bemerkte Anzu, wie eng sie sich an den Mann vor ihr gedrückt hatte. Und zu ihrer größten Überraschung, fand sie dies nicht unangenehm oder abstoßend. Ganz im Gegenteil. Ängstlich blickte sie zu ihm hinauf. War er wohl auf? War ihrem Retter nichts passiert? Er blickte sie nur von oben herab an. Seine blauen Augen schienen in der Dunkelheit zu leuchten und der ruhige Ausdruck seines Blicks gab ihr Sicherheit. Er hatte ihr das Leben gerettet.

Obwohl er sie doch eigentlich nicht leiden konnte. Und dies war nicht das erste Mal gewesen. Schon vor vielen Jahren hatte er sie mit Hilfe seines geliebten Weißen Drachen mit eiskaltem Blick gerettet.

Seine beste und für ihn wertvollste Karte riskiert. Wie konnte sie das jemals wieder gut machen? Die Minuten vergingen. Keiner der beiden rührte sich, bevor sie die Stimme eines jungen Mannes vernahmen.

„Seto?", hörte man ihn rufen, ehe sich wenige Augenblicke später die Tür öffnete und ein junger Mann mit einer Taschenlappe den Raum betrat.

Das Licht blendete die beiden.

„Oh...ich wollte nicht...tut mir leid…"

Verlegen verließ der Jüngere den Raum und schloss die Tür wieder. Erneut blickte Anzu ihr Gegenüber an.

"War das gerade Mokuba?"

Kaiba nickte nur stumm.

„Meine Güte, hat der sich verändert!"

Darauf erwiderte der CEO nichts. Anzu und Kaiba blickte einander an. Erkannte wie sie zusammenstanden und lösten sich voneinander.

„Was Mokuba jetzt wohl denkt?", stammelte die junge Frau leicht verlegen und konnte nicht verhindern, dass sie errötete.

Kaiba zuckte nur mit den Schultern, ehe sich ein fieses Grinsen auf sein Gesicht legte. Er schien sich nicht so fiel daraus zu machen oder ihre Reaktion amüsant zu finden.

„Wir sollte wieder nach oben gehen, nicht das sich seine Vermutung noch erhärtet."

„Was meinst du damit?"

Mit leicht schief gelegtem Kopf sah er sie an. Sie hätte schwören können, dass er sie jeden Moment Spatzenhirn nennen wollte. Doch er tat es nicht.

„Also Mazaki, wie sieht das wohl für meinen Bruder aus, wenn wir weiterhin allein im Keller bleiben?"

Anzu verstand und nickte nur. Kaiba tat einen großen Schritt übers Wasser, ehe er an der Tür stand und diese öffnete. Selbst im Korridor war das Licht ausgefallen. Also musste die Sicherungen rausgeflogen sein. Dennoch traute sich die Tänzerin nicht so recht, einen Fuß ins Wasser zu setzen. Kaiba bemerkte ihr zögern, verkniff sich einen genervten Seufzer und reichte ihr zum zweiten Mal an diesem Tag die Hand. Dankbar ergriff sie diese, machte einen kurzen Satz und kam dicht vor ihm zum stehen. Erneute blickte sie sich in die Augen und Anzu spürte, dass sich durch diesen Unfall etwas zwischen ihnen verändert hatte.

Das Ganze war nun über drei Jahre her. Die Zeit verging wie im Flug. Anzu war nicht ausgezogen und mit einem Mal waren nur Handwerker im Haus, wenn die Tänzerin auf der Arbeit war. Nachdem die Sanierung abgeschlossen war, liefen sich die beiden des öfteren über den Weg. Wann immer Kaiba seinen Bruder besuchte, was nicht selten vorkam, stand Anzu, natürlich rein zufällig, im Flur. Sie wechselten dann ein paar Worte. Mal mehr, mal weniger. Nach dem Tag in der Waschküche hatte sie jedes mal Schmetterlinge im Bauch, wenn sie ihn erblickte. Zuerst wollte sie es sich nicht eingestehen, aber sie hatte sich in ihn verliebt. Den fiesen Seto Kaiba. Und irgendwann schien Armor Pfeil auch ihn getroffen zu haben. Er hatte es nie zugegeben, aber Taten überzeugten eine Frau manchmal auch mehr als Worte. Noch einmal den Tisch begutachtend fiehl ihr auf, dass etwas fehlte.

„Natürlich der Wein…"

Keine halbe Stunde später betraten die Kaibabrüder ihr kleines Appartement. Mokuba hatte wie so oft Blumen für sie dabei und Seto? Typisch Mann hatte natürlich nur sich selbst mitgebracht. Doch er war nicht der Typ für schmalzige Liebeserklärungen, also sah sie ihm das nach. Während des Essens redete Mokuba angeregt über sein Studium.

Anzu hörte interessiert zu. Doch bekam sie immer wieder mit, dass Seto sie beobachtete. Sein Interesse mehr ihr galt, als den Erzählungen seines Bruders. Das wärmte ihr Herz. Als der Ältere sein Weinglas erneut füllen wollte, sprach er sie zum ersten Mal an diesem Abend an.

„Darf ich einschenken, Anzu?"

Doch die Angesprochene schüttelte den Kopf.

„Für mich heute nicht, danke Seto."

Mit gerunzelter Stirn nahm der CEO ihre Ablehnung zur Kenntnis. Bisher hatte Mazaki nie etwas gegen Wein einzuwenden gehabt. Im Gegenteil. Meist verbrachten sie den Abend nach einem Gläschen in einem anderen Raum, als dem Wohnzimmer. Mokuba fragte sofort besorgt:

„Fühlst du dich nicht gut? Sollen wir lieber gehen."

„Nein, nein.", wehrte die Tänzerin sofort ab.

„Ich bin nur ein wenig betrübt, da ich ausziehen muss."

Zwei Augenpaare richteten sich verwundert auf sie.

„Wieso das denn, Anzu? Ich denke dir gefällt es hier so gut. Schließlich hast du um die Wohnung wie eine Löwin um ihr Junges mit meinem Bruder gekämpft.", kam es leicht belustigt von Mokuba.

„Da muss ich dir zustimmen, aber ich muss es tun. Weil ich sonst gegen die Hausordnung verstoße! Hunde und Kinder sind hier im Haus doch nicht erwünscht!"

Anzu senkte den Kopf.

Die Männer sollten nicht sehen, dass sie sich nur mühsam das Lachen verkneifen konnte. Ließ diese Information im Raum stehen und wartete gespannt auf die Reaktion. Seto war zunächst stutzig, fand aber als erster seine Sprache wieder:

„Willst du dir etwa einen Hund zulegen? Ich weiß ja, dass du diese Viehcher sehr magst, aber ich dachte du hättest keine Zeit für so etwas!"

Anzu schüttelte den Kopf und strahlte ihn an:

„Nein, ich verstoße gegen das andere Verbot der Hausordnung! Ich bin schwanger!"

Anzu konnte nicht sagen, welcher der beiden Kaibabrüder verblüffter guckte. Doch Mokuba zog sie fröhlich in die Arme und gratulierte ihr.

„Das hätte ich aber nicht von dir gedacht, Anzu. So eine freudige Nachricht. Und wo ist der Vater? Lädst uns einfach ein, ohne ihn uns vorzustellen! Das gehört sich aber nicht.", tadelte der Schwarzhaarige sie spielerisch und grinste verschmitzt.

Seto räusperte sich dezent, ehe er sprach:

„Ich denke dass muss sie nicht, Mokuba."

Sein Bruder blickte ihn entgeistert an.

„Du kennst ihn und ich nicht?"

Mokuba tat gekränkte und faltete seine Servierte.

„Ich dachte immer, Anzu mag mich lieber als dich. So kann man sich irren, wenn sie dir ihren Freund vorstellt und mir nicht. Eine Frechheit ist das!"

Anzu musste über ihren langjährigen Freund lachen, wie dieser gespielt eingeschnappt sie mit Nichtachtung strafte.

„Ach Mokuba, nimm es mir nicht übel. Ich dachte, da du ihn länger und im Grunde wahrscheinlich viel besser kennst als ich, müsste ich ihn nicht extra vorstellen."

Einige Sekunden vergingen, ehe Mokuba zuerst sie mit geweiteten Augen anstarrte, danach seinen Bruder. Er schien zu verstehen.

„Soll das heißen…dass...Seto...?!"

Anzu nickte und nach einer kurzen Schrecksekunde verdoppelte sich die Freude des jungen Mannes.

Am späten Abend, als Anzu gerade den Tisch abräumte, half Seto ihr. Mokuba war derweilen gegangen, um den werdenden Eltern ihre verdiente Zweisamkeit zu gönnen. Diese würde ohnehin nicht mehr lange anhalten. Die Teller einsammelnd begann er zu sprechen:

„Du hättest es mir auch allein sagen können, oder hattest du Angst davor?"

Sie schüttelte den Kopf. Legte das Besteck bei Seite und schmiegte sich an ihn.

„Ich wollte nur gleichzeitig unser Versteckspiel aufgeben. Mein Kind soll einen Vater haben, der nicht nur von ihm weiß, sondern auch zu ihm steht."

„Das steht ja wohl außer Frage. Im übrigen, musst du nicht ausziehen."

Wie nebenbei überbrachte er diese wichtige Information.

„Aber ich denke, keine Kinder…"

„Ich habe deine Wohnung gekauft. Vor Jahren schon. Und da ich offiziell dein Vermieter bin, ändere ich einfach die Hausordnung. Aber du solltest ernsthaft darüber nachdenke, deine Wohnung zu vergrößern."

Strahlend nahm sie das zur Kenntnis. Tja, manchmal ist es wohl doch gut einen Kaiba an seiner Seite zu haben, vor allem wenn dieser selbst der Verursacher der kommenden verbotenen Ruhestörung ist…

ENDE