Der letzte Sonnenstrahl
Graue Wolken bedeckten den Himmel. Der Herbst stand vor der Tür. Meg hob die rechte Hand und wischte sich eine einsame Träne aus den Augen. Sofort verstärkte Quentin den Druck auf ihre Finger. Gemeinsam standen sie zwischen all ihren Freunden, die allesamt in Schwarz gekleidet waren und mit wässrigen Augen in ein Grab hinabstarrten.
Ein Priester sprach ein paar Worte, doch niemand hörte ihm zu. Am wenigsten von allen Nea, die vollkommen allein direkt über dem hölzernen Sarg stand und ihren Tränen keinen Einhalt mehr zu bieten vermochte. In regelmäßigen Schluchzern drang ihre unendliche Trauer in die Welt hinaus. Eine halbe Stunde später war die Grablegung vorbei. Claudette, die die siebenjährige Gabrielle an der Hand hielt, trat nach vorne und berührte Nea am Arm.
„Warum er?", flüsterte die Schwedin. Ihr Bauch zeigte bereits die deutliche Wölbung eines nun vaterlosen Kindes und niemand, weder Claudette noch Meg oder sonst jemand, konnte ihr eine Antwort geben. Sie hatten es versucht. Sie hatten alles versucht, doch was sollten sie ihr denn sagen? Dass David als Held gestorben war? Dass wegen ihm eine ganze Schulklasse unschuldiger Kinder noch am Leben war? Dass er im Alleingang einen Amokläufer konfrontiert und überwältig hatte? Sie hatten ihr bereits alles gesagt und es war alles, was sie tun konnten.
Nach und nach leerte sich der Friedhof. Ein paar Leute kamen vorbei, um Nea ihr Beileid auszusprechen. Manche bedankten sich bei ihr für das Leben ihrer Kinder, als ob sie etwas dafür getan hätte. Keinem einzigen hörte sie zu. Schließlich war nur noch der engste Zirkel übrig.
„Geht schon", sagte Nea nach einer Weile. „Es ist in Ordnung."
Meg und Claudette tauschten einen Blick aus.
„Nea, wir sind hier für dich. Wenn du irgendetwas brauchst, dann sprich mit uns."
„Ich weiß. Ich will mich nur noch allein von ihm verabschieden."
Nea fuhr sich über die Wange und wischte eine weitere Träne weg. Es war nur eine von unendlich vielen. Schweigend schaute sie hinunter auf den Grabstein, wo der Name ihres Mannes stand und beobachtete, wie der Totengräber eine Schaufel nach der anderen auf den Sarg schüttete.
Die erste, die sich umdrehte und ging, war Feng. Eiligen Schrittes marschierte sie zwischen den Reihen aus Gräbern hindurch und hinaus auf den breiten Pfad, der sie zum Ausgang des Friedhofs führen würde. Der Dame mit den blonden Haaren, die etwas abseits stand und auf sie zu warten schien, warf sie nicht einen einzigen Blick zu. Wortlos marschierte sie an ihr vorbei, nur um am Tor auf eine andere Frau zu treffen.
„Willst du nicht wenigstens mit ihr reden?", fragte Sally. Sie hielt ihren Blick auf die kleine Asiatin gerichtet, konnte jedoch sehen, dass Kate sie beobachtete. Feng schüttelte den Kopf.
„Nein. Wenn sie mit mir reden wollte, hätte sie mir die Wahrheit gesagt und nicht gewartet, bis ich es von selbst herausfinde."
Mit diesen Worten drängte sie sich an Sally vorbei und verschwand auf der grauen Straße.
Claudette lehnte sich in ihrem Stuhl nach hinten und schaute hinunter auf ihren Schreibtisch. Direkt vor ihr stand ein Glasbehälter, in dem eine einzelne orange leuchtende Blume vor sich hin blühte. Glühender Nektar tröpfelte in unfassbar langen Abständen von ihren Blättern und sammelte sich in einer Schale am Boden. Claudette hob die linke Hand. Ihre Finger berührten das Glas, während sie mit der Rechten ihr Handy an das Ohr hielt.
„Ich habe vorhin noch einmal mit dem Doktor gesprochen", meldete sich Dwights Stimme: „Er ist sich absolut sicher. Ich habe die Nummern von ein paar Experten bekommen, aber das wichtigste ist, dass wir sein Umfeld so ruhig wie möglich gestalten."
„Ich weiß", murmelte Claudette. Sie drehte den Kopf und warf einen Blick hinüber auf ein schriftliches Gutachten, einer Autismus-Spektrum-Störung Diagnose. Wie immer war es Dwights Stimme, die ihr Halt gab.
„Wir schaffen das schon. Ich hole jetzt Gabrielle von der Schule ab und komme dann nachhause, okay?"
„Okay"
„Ich liebe dich."
„Ich dich auch."
Dwight beendete die Verbindung und Claudette legte ihr Handy zurück auf die Tischplatte. Anschließend vergrub sie das Gesicht in den Händen. Ihr Atem war flach und gestresst. Sie spürte all die Sorgen einer Mutter auf ihren Schultern, sei es die Erkrankung ihres Sohnes oder die schlechten Noten ihrer Tochter. Es gab einen Haufen Probleme, um die sie sich kümmern musste und es würde ihr eine Menge abverlangen. Doch Claudette wusste, dass sie niemals aufgeben würde.
„Mami?"
Sie sah auf. Ihr Kopf drehte sich zur Seite, während sie mit ihrem Bürostuhl eine halbe Drehung vollführte. Hinter ihr in der Tür ihres Büros war ein kleiner Junge erschienen, mit dunkler Haut und lockigen Haaren. Er hatte Dwights Augen. Claudette verwandelte ihre von Sorgen gezeichnete Miene in ein lächelndes Gesicht und streckte die Hand aus.
„Komm her"
Ben machte ein paar unbeholfene Schritte nach vorne. Als er aus der Tür trat, konnte Claudette seine Spielzeuge im Wohnzimmer sehen, die er schon wieder der Größe nach angeordnet hatte. Fein säuberlich lagen sie aufgereiht mitten auf dem Spielteppich und wehe dem, der sie in Unordnung brachte. Gabrielle war bereits mehrmals durch sie hindurchgestolpert. Dwight hatte es sogar einmal gewagt, sie zurück in die Schublade zu räumen. Es war jedes Mal in eine Schreierei eskaliert.
Claudette langte nach unten und hob ihren Sohn auf ihr Knie. Aber so war er halt. Niemals wäre es Claudette in den Sinn kommen, ihn weniger zu lieben, nur weil er nicht war wie alle anderen. Das konnte sie gar nicht. Jedes Mal, wenn sie ihn anschaute, würde sie ihn am liebsten in den Arm nehmen und einfach nur an sich drücken. Egal, welche Probleme es mit sich brachte.
„Mami", sagte Ben erneut und wippte langsam auf ihrem Knie vor und zurück. Claudette folgte seinem Blick. Mit großen Augen schaute er auf die orange Blume und streckte die Finger nach ihr aus, bis sie die Glasbox berührten.
„Schön, oder?", fragte Claudette. Sie erhielt keine Antwort und hatte auch keine erwartet. Ben sprach nicht viel. Die einzigen Worte, die er bisher gelernt hatte, waren Mami, Papi, Gabi und Auto. Letzteres war sein liebstes. Der Doktor hatte ihnen bereits gesagt, dass sich mit fortschreitendem Alter eine verspätete Sprachentwicklung einstellen konnte, dass sie sich jedoch keine allzu großen Hoffnungen machen sollten.
Claudette hatte es längst akzeptiert. Ben verwendete zwar keine Worte, doch das bedeutete nicht, dass er nicht mit ihr kommunizierte. Sein ständiges Wippen war ein eindeutiger Indikator seiner Gefühlswelt, den sie schon vor langer Zeit zu lesen gelernt hatte. Seine Augen drückten eine Vielfalt an Emotionen aus und mit seinen Händen zeigte er auf alle möglichen Dinge, die ihn interessierten. Nun war es die orange Blume.
„Siehst du diese Blätter?", fragte Claudette: „Die sind mordsgefährlich. Du darfst sie anschauen, aber niemals berühren."
Ben gab ihr keine Antwort. Trotzdem wusste Claudette, dass er sie verstanden hatte, da ein bezauberndes Lächeln über seine Lippen fuhr.
„Vor ein paar Jahren", erzählte Claudette: „musste ich die Namen von hunderten Blumen auswendig lernen. Aber die hier…" Sie zeigte mit dem Finger auf das orange Pflänzchen. „Die hat noch keinen. Wir dürfen uns einen ganz neuen ausdenken." Claudette senkte ihre Augen und gleichzeitig hob Ben den Kopf. Ihre Blicke trafen sich. „Weißt du vielleicht einen?"
Ben lachte nur.
„Mami!"
Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute Claudette wieder auf die Blume.
„Interessante Wahl"
„Hey, Simon, lass deinen Bruder in Ruhe."
Meg warf einen strengen Blick hinüber auf den achtjährigen Jungen, der seinen Bruder Daniel in den Schwitzkasten genommen hatte. Sofort schossen die beiden auseinander. Der dritte der Drillinge hockte etwas abseits mit Anna im Gras und spielte eine Partie Schach gegen die Jägerin. Genau wie bei seinen zwei Brüdern war Aidens flammend rotes Haar ein klarer Hinweis auf seine Mutter. Meg drehte den Kopf wieder zu Sally.
„Wo waren wir?"
„Du wolltest mir gerade von Nea erzählen", half ihr die Krankenschwester auf die Sprünge. Sie saß zusammen mit Meg und Rin auf einer alten Bank vor ihrer Hütte im Nebel und verbrachte den Sonntagabend mit herrlichem Nichtstun. Das blasse Mädchen von einst hatte mittlerweile ihren alten Körper wieder zurückbekommen. Sally hatte es endlich geschafft, die Veränderungen des Entitus an ihr rückgängig zu machen und so sah sie nun beinahe wieder aus, wie eine normale Person. Nur ihre Augen waren nach wie vor von einem milchigen Weiß. Aber sie konnte wieder unter Leute gehen, sie konnte sich in Waltonfield aufhalten und vor allem konnte sie wieder sprechen.
Meg erinnerte sich noch gut daran, wie Rin sofort auf sie zugestürzt war und sich in einer wahren Wortflut bei ihr für einen längst vergangen Schwerthieb entschuldigt hatte. Zur Antwort hatte sie sie einfach nur in den Arm genommen. Sie hatte ihr längst verziehen.
„Genau", sagte Meg und lehnte sich wieder zurück: „Sie hat mir gestern ein Bild geschickt von sich und Nora auf einem Fjord in Norwegen. Sie sahen verdammt glücklich aus."
„Das freut mich für sie", sagte Rin: „Das haben sie sich verdient."
Meg nickte zustimmend. „Ich wünschte nur, sie wäre hier bei uns geblieben. Zwei Jahre sind es jetzt schon, dass sie zurück nach Schweden gegangen ist. Und ich vermisse sie immer noch."
„Natürlich tust du das", warf Sally ein: „Aber weißt du noch, wie schwer Davids Tod sie getroffen hat?"
Natürlich wusste Meg das noch. Bis zur Geburt ihrer Tochter hatte Nea kein einziges Mal mehr gelächelt und auch nachher war sie stets schweigsam und zurückhaltend geblieben. Der Verlust hatte sie zu einem anderen Menschen gemacht. Alles in Waltonfield hatte sie an ihre Vergangenheit erinnert und so hatte sie eines Tages beschlossen, zu ihrer Familie nach Schweden zurückzukehren, um zusammen mit Nora ein neues Leben zu beginnen.
„Es ist wohl am besten so", murmelte Meg. Sally wollte ihr bereits etwas antworten, als ein tiefes Surren aus ihrer Hütte klang. Alle drei schreckten sie hoch.
„Ach, das verdammte Ding", fluchte Sally und stand auf. Einen Augenblick später kam sie mit einem schwarzen Smartphone in ihrer Hand zurück. Meg hatte es ihr vor einem halben Jahr geschenkt und Sally war noch immer nicht ganz dahintergekommen, wie das Ding funktionierte. Aber es war nützlich, denn was Sally sehr wohl herausgefunden hatte, war, wie sie den Nebel für Telefonsignale öffnen konnte. Auf diese Weise konnte Meg sie jederzeit anrufen.
„Es ist Claudette", sagte Sally mit einem Blick auf den Bildschirm. Sie tippte auf die grüne Taste und hob das Handy an ihr Ohr. „Hallo?"
Meg hörte Claudettes Stimme als unverständliches Summen und Sally gab ihr hin und wieder eine Antwort.
„Ja ich bin im Nebel… Aber natürlich… Nein, überhaupt kein Problem. Ich mache mich sofort auf den Weg… Auf Wiederhören."
Sally legte auf und steckte das Handy zurück in eine Tasche an ihrem schwarzen Rock. Auf Megs fragenden Blick hin erklärte sie: „Gabrielle hat sich schon wieder seit zwei Tagen nicht gemeldet. Claudette macht sich Sorgen."
„Das kann ich verstehen", murmelte Meg. „Bei der Gesellschaft, mit der sie sich abgibt."
„Ich geh sie am besten gleich suchen", beschloss Sally: „Soll ich euch vier bei euch daheim herauslassen?"
„Das wäre sehr nett."
Meg stand auf, um ihre Sprösslinge einzusammeln, während Sally den Kopf drehte und ihren Blick aus dem Nebel hinausschickte. Es dauerte keine zwei Sekunden, bis sie Gabrielles Bewusstsein gefunden hatte. Ihre Gefühle waren wie immer aufgewühlt und zwiespältig, voller Widerspenstigkeit und Selbstzweifel.
„Sie ist in Boston", sagte Sally, als Meg zu ihr zurückkam.
„In Boston? Was macht sie denn in Boston?"
„Keine Ahnung. Aber ich werde es schon herausfinden."
„Na dann viel Glück."
Es dauerte keine halbe Minute, bis Sally ein Portal in Megs Haus geöffnet und sie mitsamt ihrer Familie hindurchgeschickt hatte. Anschließend schloss sie die Brücke wieder. Dafür tat sie nun einen Durchgang nach Boston auf, in eine dunkle Gasse gleich neben dem Park, in dem sie Gabrielle erspürt hatte. Sie tauschte noch einen letzten Blick mit Rin aus. Dann trat sie durch den schwarzen Nebel.
In Boston war es warm. Eine dicke Schwüle drückte auf die Lungen und es roch nach den Abgasen vorbeifahrender Autos. Der Straßenlärm hielt sich in Grenzen. Gabrielle befand sich in einer Fußgängerzone und eine etwa zwei Meter hohe Ziegelmauer schirmte den Park zusätzlich gegen die Motorengeräusche ab.
Sally schaute sich um. Eine grüne Wiese zog sich über die freie Fläche zwischen den Hochhäusern, durchschnitten von gepflasterten Wegen und befeuchtet über eine plätschernde Bewässerungsanlage. Hier und da standen ein paar Bänke. Passanten gingen ihrer Wege und etwas abseits, an einer der Mauern, entdeckte Sally eine Gruppe Jugendlicher, vier Jungen und drei Mädchen.
Gabrielle hatte den Rücken gegen die Wand gepresst. Ihre Arme waren fest um die breiten Schultern eines der Jungen geschlungen, ihre Augen geschlossen und ihr Mund scheinbar mit dem ihres Partners verklebt. Der junge Mann trug ein schlaksiges Tanktop. Seine Jeans machten den Eindruck, als würden sie ihm jeden Moment über die Knie nach unten rutschen und eine dunkelblaue Schildkappe saß auf seinen strohblonden Haaren. Es war dieselbe, wie Meg sie stets getragen hatte, bemerkte Sally.
Ein schwarzer Vogel landete auf der Mauer direkt über Gabrielles Kopf. Für einen Moment beobachteten die dunklen Augen des Raben das sich küssende Paar. Dann flatterte er mit den Flügeln und stieß einen kreischenden Schrei aus. Gabrielle und ihr Beau ließen voneinander ab. Überrascht schaute der junge Mann hinauf auf das Tier und versuchte es mit einer hektischen Geste zu verscheuchen. Gabrielle hingegen verdrehte die Augen. Mit entnervtem Gesichtsausdruck schaute sie sich um und hatte schon bald die alte Frau in dem dunklen Kleid entdeckt.
„Guten Nachmittag", grüßte Sally, die Hände über ihrem Gehstock gefaltet und einen weiteren Raben auf der Schulter. Ihr oranges Auge war hinter einer Sonnenbrille versteckt.
„Was willst du?", schnauzte der junge Mann, doch Gabrielle legte sofort eine Hand auf seine Schulter. Sie drückte ihn zur Seite und trat zwischen ihm und der Wand hervor. Sally beobachtete Claudettes Tochter mit schweigendem Blick. Sie war eine wilde Schönheit, mit anmutigem Gesicht und perfekter Figur. Zu schade, dass sie ihr Bild mit der kurzgeschnittenen Frisur, dem komplett übertriebenen Makeup und den eindeutig unzureichenden Klamotten zerstörte.
„Sally?", fragte Gabrielle und stellte sich mit verschränkten Armen vor die Krankenschwester. Der junge Mann stand aufmerksam zuhörend hinter ihr.
„Deine Mutter hat mich angerufen", erklärte die Krankenschwester: „Sie macht sich Sorgen."
„Warum?"
„Weil du schon seit zwei Tagen verschwunden bist und dich nicht mehr gemeldet hast."
Gabrielle verdrehte die Augen.
„Ja und? Muss ich etwa für jeden meiner Schritte bei ihr um schriftliche Erlaubnis fragen? Ich bin alt genug."
„Du bist sechzehn", sagte Sally: „Minderjährig."
„Alt genug", beharrte Gabrielle: „Ich kann auf mich selbst aufpassen. Sie muss mich nicht rund um die Uhr überwachen, wie meinen gestörten Bruder."
Sally ging nicht auf das Kommentar ein, doch mit ihrer Stille ließ sie Gabrielle spüren, dass ihr der Seitenhieb auf Ben zutiefst missfiel.
„Das hat sie auch nicht vor", ging Sally schließlich den diplomatischen Weg: „Aber trotzdem würde sie gern hin und wieder erfahren, wo du dich gerade aufhältst. Das ist nicht zu viel verlangt, Gabrielle, und ich kann sie gut verstehen. Immerhin ist sie für dich verantwortlich, ganz zu schweigen davon, dass sie dich liebt."
„Wer bist du denn, dass du mir hier Vorträge hältst?"
„Eine besorgte Freundin"
Gabrielle schnaubte.
„Wie auch immer. Jetzt weißt du ja, wo ich bin. Sag ihr einfach, dass es mir gut geht und dass sie sich um ihren eigenen Kram kümmern soll."
„Nein" Sally schüttelte den Kopf. „Das werde ich nicht tun."
„Dann lass es halt."
Gabrielle wandte sich bereits zum Gehen, doch Sallys dominante Aura hielt sie zurück.
„Du wirst es selbst tun", sagte die Krankenschwester: „Von Angesicht zu Angesicht. Und dabei wirst du einen anderen Ton anschlagen als den, mit dem du mich gerade angesprochen hast."
Sally hatte keine Zweifel, dass Gabrielle ihr folgen würde. Sie konnte hier herumtrotzen so viel sie wollte, vor Sally hatte sie immer noch Respekt gehabt und die Autoritätsverhältnisse waren eindeutig geklärt. Das lag auch and der guten Beziehung, die sie lange Zeit gepflegt hatten. Sally hatte sich bereits bei mehreren Gelegenheiten auf Gabrielles Seite geschlagen, hatte ihr geholfen aus Hausarrest zu entwischen oder ihr erlaubt, sich im Nebel vor ihrem wütenden Vater zu verstecken. Es war zwar schon eine ganze Weile her, doch Gabrielle stand in Sallys Schuld und das wusste sie auch.
„Gehen wir", sagte Sally. Gabrielle war auch drauf und dran, der Aufforderung nachzukommen, als sich ihr breitschultriger Freund nach vorne drängte und vor Sally aufbaute.
„Hast du sie nicht gehört?", knurrte er: „Sie will nicht mit dir kommen."
Sally zog eine Augenbraue nach oben. Der junge Mann warf sich so auffallend in die Brust, dass es geradezu lächerlich wirkte. Mit ruhiger Hand griff Sally nach ihrer Sonnenbrille, zog sie sich von der Nase und faltete die Bügel zusammen. Ihr oranges Auge blitzte ihrem Gegenüber entgegen.
„Lass gut sein, Johnny", murmelte Gabrielle, doch der blonde Kerl achtete gar nicht auf sie. Breitbeinig stellte er sich vor Sally hin.
„Nein. Du bist alt genug, hast du selbst gesagt. Deine Mutter hat dich nicht mehr herumzukommandieren. Damit ist Schluss, hier und jetzt."
Sally zeigte absolut keine Reaktion. Ihre fortwährende Stille verunsicherte Johnny mit jeder Sekunde und obwohl sie sich gar nicht bewegte, ging er in eine breitbeinige Abwehrhaltung.
„Was ist?", rief er: „Ich habe gesagt, du sollst dich verziehen."
Sallys Mundwinkel zuckte nach oben. Gabrielle beobachtete die Szene mit zunehmender Nervosität, doch es war die Stimme eines anderen Mannes, die endlich die Stille brach.
„Schließ dein verficktes Mundwerk!"
Ein Afroamerikaner mit grau melierten Haaren und in einem schicken Anzug erschien neben Sally und starrte Johnny mit bösem Blick an. „Du hast keine Ahnung, mit wem du es zu tun hast, Harper, also halt die Klappe und sieh zu, dass du Land gewinnst."
Sally drehte den Kopf und bevor sie es verhindern konnte, entfuhr ihr ein überraschtes: „Nicholas?"
Chains schenkte ihr keine Beachtung. Stattdessen bohrten sich seine Augen durch den jungen Mann, der nun endlich auch von Gabrielle zur Vernunft gebracht wurde.
„Lass gut sein", sagte sie erneut und zog ihn an der Schulter zur Seite. Johnny schaute sie nervös an. Sein Blick flog ein paar Mal zwischen ihr, Chains und Sally hin und her, bevor er sich fluchend umdrehte und klein beigab.
„Dann lass dich halt abführen", murrte er: „Mir doch egal"
Gabrielle schaute ihm mit steinerner Miene nach, während Sallys Blick auf Chains ruhte. Der alte Bankräuber drehte sich nun ebenfalls in ihre Richtung. Er streckte die Hand aus.
„Hi, Nerio. Lange nicht gesehen, was?"
„Das kannst du laut sagen."
„Ihr kennt euch?"
Gabrielle stellte sich miesmutig an Sallys Seite.
„Natürlich tun wir das", sagte Chains: „Und du, meine Dame, tätest gut daran, ihren Rat zu befolgen."
„Ja, ja"
Chains nickte zufrieden, während Gabrielle murrend nach ihrem Handy griff. Sally wusste, dass sie Tag und Nacht mit den Augen an dem Ding klebte, sofern sie nicht mit irgendwelchen Typen abhing und normalerweise ging es ihr auf die Nerven. Im gegenwärtigen Augenblick jedoch galt ihre Aufmerksamkeit einzig und allein Chains.
„Was für eine Überraschung", sagte Sally: „Ich hätte nicht erwartet, dich heute hier zu treffen."
„Ich hätte nicht erwartet, dich überhaupt noch einmal zu treffen", erwiderte Chains: „Wie lange ist es jetzt her? Fünfzehn Jahre?"
„Sechzehn, etwas mehr", antwortete Sally mit einem Nicken auf Gabrielle.
„Sechzehn Jahre", brummte Chains: „Verdammt, ich bin alt geworden. Warum kommst du nicht noch ein bisschen zu mir rüber, Sally? Dann können wir ein wenig über die alten Tage plaudern, ein wenig aufholen. Du hast doch ein paar Minuten?"
Sally warf einen zögernden Blick auf Gabrielle, bevor sie antwortete.
„Ist es weit?"
„Oh, nein, nein. Gleich hier um die Ecke."
„In diesem Fall habe ich ein paar Minuten."
„Wunderbar", rief Chains und drehte sich um: „Folgt mir, ihr zwei."
Mit einem Schulterblick vergewisserte sich Sally, dass Gabrielle auch brav bei ihr blieb und schloss dann zu Chains auf. Vorher gab sie Claudettes Tochter allerdings noch eine Anweisung.
„Ruf bitte deine Mutter an. Sie sorgt sich um dich."
„Ja, ja", murrte Gabrielle, ohne von ihrem Handy aufzusehen.
„Jetzt", beharrte Sally. Gabrielle rollte wohl zum hundertsten Mal mit ihren Augen und schloss die App, mit der sie sich gerade beschäftigt hatte. Anschließend rief sie das Kontaktverzeichnis auf und Sally drehte sich wieder nach vorne.
„Was habt ihr eigentlich mit´m Harper zu schaffen", brummte Chains.
„War das der rabiate, junge Herr?", fragte Sally.
„Genau der. Ich sag´s dir, das ist der Schandfleck der Nachbarschaft. Seine Eltern sind so halbreiche Stiefellecker und er meint, er müsse es allen unter die Nase reiben. Der Bursche hat noch keine ehrliche Stunde gearbeitet in seinem Leben."
„So sah er auch aus", murmelte Sally: „Und was ich mit ihm zu schaffen hatte, war die gute Gabrielle hier. Ihre Mutter macht sich Sorgen, weil sie sich seit zwei Tagen nicht mehr bei ihr gemeldet hat. Da bin ich nachsehen gegangen, wo sie sich denn aufhält."
Chains schaute über die Schulter. Gabrielle befand sich bereits in einem gereizten Gespräch und sah aus, als würde sie ihr Handy am liebsten auf den Asphalt schmettern.
„Ist die Kleine ausgerissen, oder was?"
„Nicht ganz", sagte Sally: „Macht sie häufiger und Claudette liebt sie zu sehr, um hart genug durchzugreifen."
„Claudette?"
„Ihre Mutter"
„Ach so"
Chains hatte Sally und Gabrielle mittlerweile aus dem grünen Park an eine Straße geführt und zeigte nun über den Zebrastreifen auf eine kleine Bar. Ol´Hox stand in grünen Lettern über der Tür geschrieben. Sally warf dem ehemaligen Bankräuber einen fragenden Blick zu und Chains nickte.
„Ganz richtig, das ist unsere."
„Die ganze Gang?", fragte Sally.
„Eher nur ich und Jacky."
„Und der Rest?"
„Ich erzähl´s dir drinnen. Kommt."
Zügigen Schrittes lief Chains auf die Eingangstür zu, drückte sie auf und machte zwei herauskommenden Gästen Platz. Anschließend hielt er sie noch für Sally und Gabrielle offen, bevor er schlussendlich selbst eintrat. Im Inneren roch es nach allen möglichen Speisen. Es war ein gemütlich eingerichtetes Lokal, mit angenehmen, gepolsterten Bänken und einer Bar aus dunklem Holz. Um diese Zeit war der Raum so gut wie leer.
„Setzt euch ruhig hin", sagte Chains und wies auf einen der Ecktische, direkt neben dem Fenster. Gabrielle und Sally gingen hinüber, während Chains an die Bar trat. „Hey, Jacky, schaff deinen faulen Arsch hier raus. Wir haben Besuch." Kurz darauf setzte er sich ebenfalls zu ihnen an den Tisch.
„Bevor wir jetzt gleich alle sentimental werden hier, will ich dir einen Rat geben, meine Kleine. Fang ja nichts mit´m Harper an. Der ist nicht gut für dich."
Gabrielle murmelte etwas Unverständliches.
„Ich mein´s ernst", sagte Chains: „Der haut vielleicht hin und wieder ein paar süße Worte raus, lässt ein paar Machosprüche los, aber glaub mir, da ist nichts dahinter. Du siehst mir ganz gescheit aus, Mädel. Der ist nichts für dich."
„Ich wollte sowieso nichts von ihm."
„Du hast ihn geküsst", warf Sally mit hochgezogenen Augenbrauen ein: „Und das ist eine konservative Beschreibung."
„Ja und? Mir war halt langweilig."
„Naja, wenigstens weiß sie sich zu beschäftigen", lachte Chains: „Aber ich glaube, unsere Botschaft ist angekommen."
„Woher kennt ihr euch eigentlich?", fragte Gabrielle und legte sogar ihr Handy weg. Sie musst wohl wirklich neugierig sein.
„Das ist eine lange Geschichte", antwortete Chains: „Damals warst du noch gar nicht auf der Welt, soviel ich weiß."
Bevor das Gespräch weitergehen konnte, trat eine weitere Person an ihren Tisch. Es war ein junger Mann, ungefähr Mitte dreißig, mit einem ordentlich gestutzten Bart und einem erfahrenen Blick. Von dem unsicheren Jungen von einst war nichts mehr zu sehen.
„Schau mal einer an. Das kann doch nicht wahr sein."
„Junior", nickte Sally und reichte ihm die Hand: „Es freut mich, dich zu sehen."
„Gleichfalls, Sally, gleichfalls." Er zog einen Stuhl herbei und setzte sich neben Chains an den Tisch. „Auch wenn mich schon seit Ewigkeiten keiner mehr mit diesem Namen angesprochen hat. Wie lange ist es her? Fünfzehn Jahre?"
„Sechzehn", korrigierte Chains.
„Eine lange Zeit", sagte Junior: „Ich habe mich oft gefragt, was aus dir geworden ist."
„Nichts Besonderes", antwortete Sally: „Ich habe mich niedergelassen, genau wie ich es immer vorhatte. Zusammen mit meinen Freunden habe ich mir ein Leben fernab von all den schrecklichen Dingen aufgebaut und mache eigentlich nichts anderes mehr, als ihre Gesellschaft zu genießen. Und hin und wieder auf ihre Kinder aufzupassen." Sally legte eine Hand auf Gabrielles Schulter und Chains lachte in sich hinein.
„Ist sicher um einiges ruhiger, als Banken auszurauben, was?"
„Ihr habt eine Bank ausgeraubt?", fuhr Gabrielle auf und schaute zwischen Sally und Chains hin und her.
„Ist nur eine Redewendung", sagte Sally sofort. Sie warf Chains einen vielsagenden Blick zu und wechselte dann das Thema. „Wie ich sehe, habt ihr auch eure Ruhe gefunden."
„Aye, das haben wir", sagte Chains und deutete auf den gemütlichen Raum: „Gehört alles uns. Und es ist komplett sauber."
„Keine Fassade für irgendein schmieriges Ding?"
„Nicht ein einziges."
„Dann seid ihr also wirklich ausgestiegen", staunte Sally: „Ihr alle."
„Naja", murmelte Chains: „Ulf hat sich zurück nach Schweden verpisst. Wir haben jetzt schon seit Jahren nichts mehr von ihm gehört, aber wenn der Sack wirklich nicht mehr auf der schiefen Bahn unterwegs ist, dann fresse ich einen Besen."
„Und die anderen zwei?"
„Nathan und Rochelle?"
„Ja"
Chains seufzte und warf Junior einen seltsamerweise traurigen Blick zu, bevor er zu erzählen begann.
„Der Boss hat ursprünglich hier mitgemacht. Es war seine Idee, dieses Lokal zu kaufen und wie immer hatte er einen verdammt guten Riecher. Es war zwar teuer, aber mit all dem Geld, dass du uns rausgeholt hast…"
„Dann habt ihr also eine Bank überfallen!"
Gabrielle stützte sich neugierig nach vorne auf den Tisch, doch niemand schenkte ihr Beachtung. Stattdessen sprach Sally weiterhin mit Chains.
„Du hast Ursprünglich gesagt", fragte sie: „Ist er nicht mehr dabei?"
„Leider nicht", antwortete Chains: „Zwei Jahre nachdem wir alles renoviert hatten, hat er eine Diagnose gekriegt. Krebs. Und ab da hat´s dann noch ein halbes Jahr gedauert."
Sally senkte den Blick.
„Das tut mir leid."
„Ach was", winkte Chains ab: „Er ist in seinem Bett gestorben. Dank dir, zum Teil. Und er war glücklich in seinen letzten Jahren. Außerdem hängt er immer noch da drüben über dem Klavier und schaut uns böse an, wenn wir beim Bedienen schlappmachen." Chains zeigte hinüber auf das Foto eines rechtschaffenen Bürgers, der mit sicheren Augen und fester Miene in die Kamera starrte. Sally musste unwillkürlich grinsen.
„Nach wie vor der Boss, wie ich sehe", bemerkte Sally: „Und Clover?"
„Rochelle", lachte Junior: „Die hat einen Mann gefunden und sich bis über beide Ohren verliebt, das sage ich dir. Sie sind nach Kanada gezogen, die zwei. Er soll ja ein ziemlicher wohlhabender Kerl sein, soviel ich gehört habe."
Chains nickte bestätigend.
„Früher hat sie hin und wieder hier bei uns vorbeigeschaut", sagte er: „Aber spätestens nachdem sie ihr erstes Balg auf die Welt gebracht hat, war damit Schluss. Du weißt ja, wie das abläuft. Man treibt voneinander weg und ehe man sich´s versieht, verliert man sich aus den Augen."
„Schade", murmelte Sally: „Aber so ist das halt. Ich bin froh für sie, dass sie sich ein neues Leben aufbauen konnte. Und für euch natürlich auch."
Chains entließ ein herzhaftes Lachen aus seiner Kehle und breitete die Arme aus.
„Jetzt sag schon. Was hältst du von unserer Bude?"
„Sehr nobel"
„Hör auf mit der Schleimerei, Smithson. Ich weiß genau, dass es eine schmuddelige Absteige ist. Sieht fast schlimmer aus als ich nach all den Jahren. Aber du… Ich könnte schwören, du bist immer noch genau so alt wie damals."
„Wie damals?", fragte Sally mit einem mystischen Grinsen: „Für wie alt hältst du mich denn?"
„Keine Ahnung", überlegte Chains: „Irgendwas zwischen sechzig und siebzig?"
Sally antwortete ihm nicht. Stattdessen schaute sie ihn einfach nur an und entdeckte einen Mann, der sein Leben wahrhaft zurück in die richtige Bahn gelenkt hatte.
Gabrielle trat aus dem Nebel und schaute sich um. Das Wohnzimmer war leer. Die Lampen waren ausgeschaltet und nur aus dem Arbeitszimmer ihrer Mutter drang noch ein schmaler Lichtstreifen. Gabrielle hielt die Luft an. Wenn sie aufpasste, konnte sie sich vielleicht in ihr Zimmer schleichen, ohne dass sie es bemerkte und…
„Fuck!"
Zwei kleine Spielzeugautos rollten über den Boden. Gabrielle war direkt in die Straße getreten, die ihr Bruder durch das gesamte Wohnzimmer gezogen hatte und ein stechender Schmerz pulsierte durch ihren großen Zeh. Hoffentlich hatte ihre Mutter nichts geh…
„Hallo? Gabrielle?"
Sie verdrehte die Augen. Warum war sie auch so blöd und vergaß die sorgfältig nach Farbe und Größe sortierte Autobahn, die quer durch das Wohnzimmer von Bens seltsamen Refugium in das Büro führte? Zur Strafe durfte sie sich jetzt eine Standpauke anhören.
„Ja, ich bin hier", murrte Gabrielle und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Silhouette ihrer Mutter erschien in der Bürotür. Ein schneller Griff nach dem Lichtschalter flutete den Raum in weißes Licht und Gabrielle musste blinzeln.
„Endlich", sagte Claudette und eilte durch den Raum: „Wo bist du denn gewesen?"
„Habe ich dir doch gesagt. Ich war unterwegs."
„Unterwegs?"
„Mit Freunden."
Claudette seufzte. Sie trug einen engen Wollpullover, ihre Füße steckten in flauschigen Pantoffeln und ihre Haare waren ein zusammengebundenes Chaos.
„Gabrielle, du kannst dich nicht einfach zwei Tage lang nicht mehr melden. Ich war ganz krank vor Sorge."
„Warum?"
„Warum? Weil ich nicht wusste, wo du warst! Ich wusste nicht, ob du irgendwo bei einem deiner Freunde untergekommen bist oder… oder ob man dich entführt hat oder sonst irgendwas, bei den Leuten, mit denen du dich manchmal herumtreibst."
„Die Leute, mit denen ich mich herumtreibe? Was soll das denn jetzt heißen?"
Gabrielle hatte die Stimme erhoben und Claudette legte sofort einen Finger über ihre Lippen.
„Psst, dein Vater und dein Bruder schlafen schon. Sei bitte leise."
Gabrielle schnaubte. Trotzig ließ sie sich auf eines der Sofas fallen, während Claudette sich nach unten bückte und die zwei Spielzeugautos zurück in ihren Platz stellte. Anschließend setzte sie sich neben ihre Tochter.
„Ich will nicht mit dir streiten, Gabrielle. Aber ab und zu muss ich wissen, wo du bist, was du tust und wie es dir geht."
„Warum?"
„Weil ich deine Mutter bin, Gabrielle."
„Ja und?"
„Und ich kümmere mich um dich. Bitte, sei etwas leiser."
Gabrielle sah aus, als würde sie innerlich kochen und vermied es entschieden, ihrer Mutter in die Augen zu schauen.
„Kannst du das für mich tun?"
„Was?"
„Mich auf dem Laufenden halten?"
„Ja, ja"
„Versprochen?"
„Ja, ja"
„Und nicht nur, damit ich dich jetzt in Ruhe lasse und du in dein Zimmer verschwinden kannst."
Gabrielle antwortete nicht. Eine Weile versuchte Claudette noch, ihren Blick aufzufangen, bevor sie ihre Niederlage eingestand und stattdessen die Hand nach ihr ausstreckte. Ihre Finger berührten Gabrielles Schulter.
„Ich kann sehen, dass dir etwas auf dem Herzen liegt."
„No shit, Mom"
„Willst du darüber reden?"
„Nein"
„Okay"
Claudette nahm die Entscheidung ihrer Tochter widerstandslos hin. Sie wusste genau, dass es keinen Sinn hatte, sie unter Druck zu setzen. Wenn, dann würde es die Dinge nur noch weiter festfahren und das wollte sie unter allen Umständen vermeiden. Sowohl ihre eigenen als auch Dwights Eltern hatten sie vor dieser Phase gewarnt. Und sie hatten ihr auch gesagt, dass sie irgendwann vorüber sein würde, manchmal früher, manchmal später. Claudette musste einfach nur abwarten und irgendwann würde Gabrielle ihr wieder entgegenkommen. Hoffentlich.
„Wenn irgendetwas ist", sagte sie: „Dann kannst du immer zu mir kommen. Das weißt du doch, oder?"
„Ach wirklich?"
Claudette stutzte. Sie schaute Gabrielle sorgenvoll an und runzelte die Stirn.
„Aber natürlich, Liebling, ich…"
„Weil alles, was ich von dir sehe, wenn ich hier bin, ist eine geschlossene Bürotür."
Gabrielle war immer weiter nach unten gesunken und lag nun mehr als dass sie saß. Claudette drehte den Kopf. Ihr Blick wanderte hinüber auf die Bürotür und in den dahinterliegenden Raum. Ein oranges Leuchten drang von ihrem Schreibtisch herüber.
„Was machst du da drin überhaupt den ganzen Tag?"
Claudette schaute wieder zu Gabrielle. Zu ihrer großen Überraschung erwiderte ihre Tochter den Blick und wandte sich auch nicht ab, als Claudette sich zu ihr herüberbeugte.
„Soll ich es dir zeigen?"
„Was? Dein Büro? Netter Versuch. Wenn ich da rein gehe, kriege ich ein halbes Jahr Hausarrest. So schlau bin ich auch schon."
„Nur, wenn ich nicht dabei bin", widersprach Claudette: „Außerdem ist es doch nicht mein Ziel, dir Hausarrest aufzubrummen."
„Dann müsstest du mir wenigstens nicht mehr deinen Wachhund hinterherschicken."
„Wen? Sally?"
Gabrielle grunzte nur.
„Komm", sagte Claudette und nahm sie bei der Hand: „Ich glaube, es wird dir gefallen." Wiederwillig ließ sich Gabrielle auf die Beine ziehen. Claudette bugsierte sie in Richtung des Büros und sobald sie eingetreten waren, schloss sie die Tür hinter sich. Endlich konnten sie wieder in normaler Lautstarker miteinander sprechen.
„Wow, Mom, was geht denn hier ab?"
„Nichts anfassen, okay?"
„Diese orangen Blumen? Mit Sicherheit nicht. Was sind das überhaupt für eklige Dinger?"
„Das ist eine Flos Excutus Aurantius."
„Bitte was?"
„Übersetzt heißt es in etwa so viel wie orange Zitterblume."
Gabrielle drehte sich langsam um die eigene Achse und betrachtete die unzähligen, orangefarbenen Blumen, die in den Regalen vor sich hin blühten. Allesamt strahlten sie ein sonderbares, oranges Licht aus. Natürlich hatte ihre Mutter jedes einzelne Regal mit einer Glasscheibe und einem dicken Vorhängeschloss versehen.
„Mom", murmelte Gabrielle: „Du bist doch nicht übergeschnappt, oder?" Sie drehte sich um zu Claudette, die hinter ihr stand und ein seltsames Lächeln auf den Lippen trug.
„Warum sollte ich übergeschnappt sein?"
„Weil du dein Büro in ein Gewächshaus verwandelt hast und radioaktive Blumen züchtest."
„Die Becquerelwerte sind alle in Ordnung", sagte Claudette: „Die sind nicht radioaktiver als die Rose, die mir dein Vater an unserem Hochzeitstag geschenkt hat. Aber gefährlich sind sie trotzdem. Hier, komm her." Sie bedeutete Gabrielle, an ihren Schreibtisch zu treten und zeigte auf eine einzelne Blume unter einer Glasglocke.
„Das ist das neueste Exemplar", erklärte Claudette: „Siehst du die orangen Tropfen an den Blättern?"
„Ja", bestätigte Gabrielle mit unverhohlen Abscheu.
„Das ist eine spezielle Variante des Thanatos-Serums, das vor Jahren von der Regierung entdeckt wurde. Die ursprüngliche Version ist an Janusmaschinen aufgetreten, aber diese hier, die lässt sich nur von den Blumen ernten."
„Mom? Was redest du da?"
„Es ist mir endlich gelungen, Gabrielle", sprach Claudette weiter: „Ich versuche nun schon seit Jahren, ein Exemplar zu züchten, das signifikante Mengen dieser Flüssigkeit absondert und jetzt ist es mir endlich gelungen. Da, schau!"
Claudette wies auf die Glasglocke und Gabrielle lenkte ihren Blick nach vorne. In der orangen Blüte hatte sich eine Substanz gebildet. Dick und schwer klebte sie an den Blättern und zog die gesamte Pflanze nach unten. Der dünne Stängel vermochte die Last kaum zu schultern. Im nächsten Moment ging jedoch ein Zucken durch die Blume und die gesamte Blüte schüttelte sich wie von Geisterhand hin und her, sodass die orange Flüssigkeit an die Glasscheibe spritzte. Von dort rann sie nach unten in eine bereits gut gefüllt Schüssel.
„Was zur Hölle…", murmelte Gabrielle, doch ihre Mutter war ganz begeistert.
„Toll, oder? Jetzt weißt du auch, warum ich sie Zitterblume getauft habe."
„Du hast ihr den Namen gegeben?"
„Natürlich. Ich habe sie entdeckt."
„Wow" Gabrielle trat einen Schritt zurück und beobachtete die Blume, als wäre sie eine grässliche Spinne. „Und was bringt das?"
Claudette drehte sich zu ihr um.
„Das Thanatos-Serum ist hochtoxisch, Gabrielle", sagte sie: „Deshalb will ich auch nicht, dass ihr euch ohne mich hier drin aufhaltet. Aber obwohl die Blumen nichts weiter als Wasser und Boden brauchen, ist diese orange Flüssigkeit stark exotherm."
Gabrielle schaute ihre Mutter an, als wäre sie eine verrückte Wissenschaftlerin.
„Das bedeutet, sie strahlt Wärme ab", präzisierte Claudette: „Energie! Wenn man genug davon hat, kann man einen Generator damit betreiben."
„Das funktioniert?"
„Noch nicht", sagte Claudette: „Aber ich arbeite daran. Und diese Blume hier, die ist ein großer Durchbruch. Außerdem verflüchtigt sich das Serum, nachdem es all seine Wärme abgegeben hat. Es ist perfekt, Gabrielle."
„Wenn du das sagst." Gabrielle schaute sich wieder um. „Und das ist es, was du hier drinnen den ganzen Tag treibst?"
„Ja"
„Du bist verrückt" Gabrielle drehte sich um schaute auf die Regale. Claudette spürte einen kleinen Stich in ihrem Herzen. Sie hatte gehofft, ihre Tochter für etwas begeistern zu können, das einen so wichtigen Bereich ihres Lebens darstellte und war allem Anschein nach gescheitert. Doch dann wandte sich Gabrielle wieder um mit einem faszinierten Lächeln auf den Lippen.
„Das ist total abgefahren."
Kate ließ den Blick über das Wasser gleiten und fragte sich, ob sie wirklich langsam zu einer alten Dame mutierte, die in den Park ging, um Enten zu füttern. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie bereits ihr erstes graues Haar entdeckt, um ihre Hüften machte sich ein zunehmend trägerer Lebensstil bemerkbar und auch die Energie, die sie ihr ganzes Leben lang verspürt hatte, schien sich nicht mehr richtig aufzufüllen.
Sie hob den Kopf nach oben. Graue Wolken zogen sich über den Himmel und Kate hatte angenommen, dass es regnen würde. Trotzdem war sie in den Park gegangen. Ansonsten hätte sie allein zuhause in ihrer zugegeben recht ansehnlichen Wohnung sitzen und sich irgendwie anders die Zeit totschlagen müssen. Vielleicht hätte sie an ihrem neuen Album weiterschreiben können. Aber Kate war nicht in der Stimmung und tief drinnen fühlte sie, dass sie es wohl niemals zu Ende bringen würde. Schwermütig zog sie eine Zigarette aus ihrer Hosentasche.
„Entschuldigung, ist hier noch frei?"
Kate sah auf und entdeckte eine Dame in einem schwarzen Mantel, die auf den Platz neben ihr wies. Mit einem bejahenden Grunzen rückte sie ein Stück zur Seite. Während Kate sich die Zigarette ansteckte, ließ sich die Frau neben ihr auf der Bank nieder und lehnte ihren zusammengefalteten Regenschirm an die Seite.
Kates Blick ging wieder hinaus über das Wasser. Sie bemerkte nicht, dass die Dame neben ihr sie beständig ansah und eine friedliche Stille legte sich über den Park. Hin und wieder quakte eine der Enten. Drüben in der Stadt hörte man eine Polizeisirene. Ein Passant lief mit klackenden Schuhen an ihnen vorbei.
„Kate"
Die blonde Sängerin drehte den Kopf. Die Frau neben ihr war eine Asiatin, ungefähr in ihrem Alter, in elegante Klamotten gekleidet und mit schulterlang geschnittenen, bereits von silbernen Strähnen durchsetzen Haaren. Auf den ersten Blick hatte Kate sie für irgendeine schnöselige Geschäftsdame gehalten. Nun jedoch erkannte sie das chaotische Mädchen, das sie vor all den Jahren kennengelernt und das sie so glücklich gemacht hatte.
„Feng?"
„Hi, Kate."
Feng schaute sie an, als ob sie auf etwas warten würde. Ihre Augen musterten sie und es war unmöglich, ihre Gedanken abzulesen.
„Ähm… wow, was… was machst du denn hier? Ich meine, du… du siehst gut aus. Ähm…"
„Danke" Feng senkte kurz ihren Blick, schaute jedoch gleich wieder zu Kate. Einen Augenblick später drehten sie sich beide nach vorne und blickten hinaus über den See. Eine bedrückende Stille machte sich breit.
„Ich habe dein letztes Album gehört", sagte Feng schließlich: „Hat mir ganz gut gefallen, sogar als Nicht-Country-Fan."
Ein Lächeln legte sich auf Kates Lippen, doch es drückte keine Freude aus. Feng wartete eine Weile, bevor sie weitersprach.
„Ich bin gekommen, um zu sehen, wie´s dir geht, Kate."
Die blonde Sängerin drehte den Kopf.
„Unsere Wege haben sich doch schon vor Jahren getrennt."
„Vor sechsundzwanzig Jahren", nickte Feng: „Und trotzdem habe ich immer wieder an dich gedacht."
Kate antwortete ihr nicht. Ihre Augen hatten sich wieder auf die Wellen fixiert und ihre Miene war eine undurchdringliche Fassade.
„Wenn du nicht mit mir sprechen willst, dann gehe ich wieder."
„Nein, nein, schon in Ordnung." Kate bemühte sich um eine freundliche Miene, doch es fiel ihr ungemein schwer. Feng gelang es viel einfacher.
„Was zwischen uns vorgefallen ist…", sagte die immer noch kleine Asiatin: „Ich wollte mich entschuldigen."
„Warum?" Kate horchte auf. „Ich war diejenige, die unsere Beziehung betrogen hat, nicht du. Du hattest recht, mich stehen zu lassen."
„Trotzdem hätte ich dich nicht komplett aus meinem Leben verbannen müssen", beharrte Feng: „Ich habe dich aus deinem sozialen Umfeld gestoßen und ich habe schon damals gesehen, dass es dir große Schwierigkeiten bereitet hat. Ich habe auch gewusst, dass du es seit dem ersten Tag aufrichtig bereut hast. Es hat mich oft beschäftigt aber… damals war ich einfach noch zu wütend auf dich."
„Und Recht hattest du."
„Vielleicht" Nachdenklich schaute Feng hinaus über den See. „Vielleicht auch nicht. Vielleicht hätten wir es überstehen können, wenn ich mich anders entschieden hätte."
„Glaubst du?"
„Ich weiß es nicht."
Wieder breitete sich Stille aus. Dieses Mal war sie jedoch weit weniger unangenehm und ließ viel mehr Raum für die Entfaltung angenehmerer Gedanken. Für eine Weile schwelgten die beiden in Erinnerungen, bis Kate das Schweigen schließlich brach.
„Ich habe auch oft an dich gedacht", murmelte sie: „Und du hast recht damit, dass ich es seit dem ersten Tag bereut habe. Wie konnte ich auch anders? Du warst so treu, so liebevoll. Und ich habe dich hintergangen. Ich könnte niemals eine Entschuldigung von dir akzeptieren, Feng, nicht nach allem, was vorgefallen ist. Du hast mir niemals wehgetan. Das war ich ganz allein."
Feng überlegte, ob sie Kate berühren sollte, ließ es allerdings bleiben. In ihrem Herzen spürte sie noch immer den Funken der Liebe, der sich schon lange durch den schwarzen Schlamm des Verrats zurück ans Tageslicht gebrannt hatte, befeuert von aufrichtiger Reue und sehnender Vergebung.
„Das stimmt nicht", sagte Feng: „Ich hätte anders handeln können."
Kate schüttelte nur den Kopf. Ein dumpfer Donner rollte über den Himmel und verhallte in den Straßenschluchten der umliegenden Stadt. Schließlich zog Feng ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich.
„Kate", sagte die kleine Asiatin. Die blonde Sängerin drehte den Kopf und entdeckte einen schwarzen, quadratischen Gegenstand in Fengs Hand. „Weißt du noch, wie überglücklich David war, als Nea ihm verraten hat, dass sie schwanger sei?"
„Wie könnte ich das jemals vergessen?"
„Ich weiß", nickte Feng: „Es war wunderbar und es war der Zeitpunkt, an dem ich einen Entschluss gefasst habe. Ich habe angefangen zu sparen, bis ich diesen Ring kaufen konnte." Sie öffnete die kleine, schwarze Box und ein glitzerndes Schmuckstück kam zum Vorschein. „Nachdem alle unsere Freunde geheiratet hatten, wollte ich dir auch endlich einen Antrag stellen."
„Daraus ist wohl nichts geworden", murmelte Kate mit einem Blick auf den Ring. Sie spürte, dass ihre Augen etwas wässrig geworden waren.
„Nein", antwortete Feng: „Und ich hab´s für mich behalten. All die Jahre. Ich hab´s nie jemandem erzählt."
„Aber du hast ihn aufbewahrt."
„Das habe ich." Feng streckte die Hand aus. „Hier. Ich will, dass du ihn nimmst."
„Feng, was…"
„Das ist kein Heiratsantrag, ganz sicher nicht." Feng verharrte mit ausgestreckter Hand. „Aber er war immer für dich bestimmt. Von Anfang an."
Kate schüttelte den Kopf.
„Ich kann ihn nicht nehmen."
„Warum nicht?"
„Weil er mir nicht zusteht."
„Das ist dein Ring", sagte Feng: „Natürlich steht er dir zu. Schließlich habe ich ihn dir geschenkt."
„Wann?"
„Gerade eben."
Kate wandte sich ab und versuchte, die Träne zu verstecken, die über ihre Wange gerollt war. Niemals würde sie den Ring entgegennehmen. Das konnte sie nicht, nach allem, was passiert war. Nachdem Feng also eine gute Weile mit ausgestreckter Hand dagesessen war, legte sie die kleine Box einfach zwischen sie auf die Bank.
„Ich habe ein paar Damen kennengelernt", sagte Feng: „Über all die Zeit zwischen damals und jetzt. Sie waren nette Leute. Aber nie wieder habe ich jemanden wie dich gefunden."
Kate hielt ihren Blick nach vorne gerichtet.
„Was willst du damit sagen?"
Feng ließ sich Zeit, bevor sie antwortete.
„Vielleicht hätten wir es reparieren können", sagte sie: „Vielleicht auch nicht. Wir haben´s nie versucht und solange wir das nicht tun, werden wir´s nie herausfinden."
„Was denn?", fragte Kate und schaute endlich wieder zurück zu Feng: „Willst du mich auf einen romantischen Kaffee einladen, oder was?"
Die Antwort war verblüffend direkt.
„Ja"
„Sind wir nicht etwas zu alt für solches Zeug?"
„Nein"
„Hast du dir überhaupt überlegt, was du da tust?"
„Lange und eingehend" Fengs Blick war sicher. Sie meinte es ernst. „Sonst wäre ich niemals hierhergekommen." Sie griff nach ihrem Regenschirm und stand auf, ließ den Ring jedoch liegen. „Du musst nicht zustimmen. Ich weiß auch nicht, ob du jemand anderen gefunden hast. In dem Fall solltest du nicht zustimmen. Aber wenn du willst, bin ich hier."
Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging den gepflasterten Pfad entlang, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Kate schaute ihr eine Weile lang nach. Irgendwann griff sie nach der schwarzen Box, klappe sie auf und betrachtete den glitzernden Ring. Dann kam sie auf die Beine. Feng wartete am metallenen Eingangstor des Parks und begrüßte sie mit einem Lächeln.
„Ich kenne ein wundervolles, kleines Café", sagte Kate: „Es ist ein gutes Stück von hier, aber wir könnten den Bus nehmen."
Zur Antwort griff Feng nach ihrer Hand. Kate hätte sich die Berührung niemals erlaubt und genoss sie deshalb umso mehr.
„Wir müssen nicht mit dem Bus fahren", grinste Feng. Gemütlich zog sie Kate am Gehsteig entlang, bis sie vor einem schicken, schwarzen Auto stehenblieben. Es war ein nobler Wagen, von einer teuren Marke. Mit einem Knopfdruck auf den Schlüssel in ihrer Manteltasche entsperrte Feng das Fahrzeug.
„Wow", staunte Kate: „Ich sehe, du stehst mittlerweile etwas über dem Normalbürger, zumindest was die Wahl des Gefährts angeht."
„Ich und Claudette haben eine Firma gegründet", erzählte Feng: „Das ist schon Jahre her. Und letzten Sommer haben wir einen riesigen Vertrag abgeschlossen mit einem unfassbar wichtigen Geschäftspartner."
Kate zog die Augenbrauen nach oben.
„Mit wem?"
„Ach…", Feng zuckte mit den Schultern: „Nur die Europäische Union."
„Jetzt reiß dich zusammen, Mom", sagte Gabrielle und packte Claudette an der Schulter: „Das ist dein großer Tag. Das ist alles nur wegen dir."
„Ich kann das nicht."
„Natürlich kannst du das!"
„Du siehst wundervoll aus."
„Danke, aber darum geht´s jetzt nicht." Gabrielle trug ein bezauberndes, rotes Kleid, das sich hervorragend von ihrer dunklen Haut abhob. „Du musst jetzt nur da rausgehen, dich zusammenreißen und über deine große Leidenschaft schwadronieren. Genau das Zeug, das wir uns auch die ganze Zeit anhören müssen."
„Aber da sitze ich auch mit euch am Frühstückstisch", murmelte Claudette. „Da stehe ich nicht in einer Fabrikhalle voller Investoren und Politiker."
„Das ist genau das gleiche."
„Nein ist es nicht."
„Natürlich ist es das. Schau, Feng ist gerade fertig mit ihrer Rede. Du bist dran."
„Was?"
„Los"
Gabrielle schubste ihre Mutter nach vorne in Richtung des Podiums. Sofort brach tosender Applaus aus und schmetterte auf ihre Ohren. Claudette spürte, wie sie rot anlief. „Ganz ruhig", flüsterte sie: „Ganz ruhig, ganz ruhig, du schaffst das schon, ganz ruhig."
Mit zittrigen Beinen trat sie die beiden Stufen nach oben auf das niedrige Podest. Feng empfing sie dort mit einem glücklichen Lächeln und zeigte ihr den Weg zum Rednerpult. Ein Gewitter aus Kamerablitzen brach über sie herein. Hinter ihr, so wusste Claudette, standen der Präsident der Europäischen Kommission, der Umweltkommissar, der Energiekommissar, der Ministerpräsident von Italien, der Außenminister der Vereinigten Staaten und sonst noch eine ganze Reihe wichtiger Politiker unter einer großen, europäischen Flagge. Ganz oben an der Betonmauer der Fabrikhalle prangte der Schriftzug AurantiaTech, der Name ihres Unternehmens.
„Ähm…", stammelte Claudette und ihre Stimme zitterte verstärkt durch den gesamten Saal: „Hallo. Mein Name ist Claudette Morel… Aber meine Kollegin hat mich ja bereits vorgestellt. Ich…"
„Warum haben Sie als die geniale Wissenschaftlerin hinter all diesen Entwicklungen kein Patent für ihre Aurantia-Generatoren angemeldet?", rief einer der Reporter von unten herauf. Eine Fülle an Mikrofonen und Kameras richtete sich direkt auf sie.
„Ich… ähm…", stammelte Claudette: „Ich wollte, dass sie weltweit verwendet werden können, schätze ich…"
„Ihnen ist doch klar, dass Sie ihrer Firma damit die Gelegenheit genommen haben, den weltweiten Markt zu kontrollieren?"
„Ja, natürlich…"
„Und Sie wissen, dass es Verluste in Milliardenhöhe für Sie bedeutet?"
„Ja, aber darum geht es hier nicht!"
Die Kameras der Reporter blitzten aufmerksam auf sie ein. Zehn Minuten später trat Claudette nach hinten und machte Platz für den Präsidenten der europäischen Kommission. Mit Schweißtropfen auf der Stirn stellte sie sich neben Feng an den Rand des Podiums. Überglücklich lächelten sich die beiden an und schaute dann hinunter in die Anlage, die in wenigen Tagen mit ihren tausenden orangen Blumen eine Kleinstadt in Italien mit Strom versorgen würde, vollkommen ohne Abfälle und jegliche Umweltverschmutzung. Es war ein erster Schritt auf einem langen Weg, das wusste Claudette. Doch sie war sich absolut sicher, dass sie ihren Kindern eine bessere Welt hinterlassen würde.
Die milchigen Augen der alten Dame wanderten hinaus über die blauen Wellen bis an den Horizont. Obwohl die Sonne noch lange nicht untergehen würde, schob sich bereits der erste der beiden Monde über den azurnen Himmel und der zweite würde bald folgen. Meg wusste das. Sie war schon so oft mit Sally hier gewesen, dass ihr das Rauschen der Wellen und das Rascheln der Palmen beinahe bekannter vorkam als die Klänge ihrer eigenen Welt. Sie drehte den Kopf.
„Über was denkst du gerade?"
Sally schaute überrascht zu ihr herauf. Sie saß neben Megs Rollstuhl im Sand und sah keinen Tag älter aus als an dem Tag, an dem sie mit Meg zu ersten Mal hier gewesen war. Megs rote Haare hingegen hatten längst all ihre Farbe verloren. Das flammende Rot war einem schimmernden Weiß gewichen, ihre Haut war ausgetrocknet und verrunzelt und ihre Arme ließen sich kaum noch heben. Ganz zu schweigen von ihren Beinen.
„Ich denke, dass wir ihr einen schönen Abschied beschert haben", murmelte Sally. Ihr oranges Auge wanderte wieder nach vorne. „Und ich denke, dass sie ein wunderbares Leben gehabt hat."
„Ja", stimmte Meg zu: „Das glaube ich auch." Sie genoss den Geruch des Salzes in ihrer Nase und das Gefühl des sanften Windes auf der Haut. „Gabrielle wird sie vermissen."
„Das wird sie", bestätigte Sally: „Das werden eine ganze Menge Leute."
„Natürlich", sagte Meg: „Sie hat eine Revolution eingeleitet. Der Friedhof war überfüllt mit Würdenträgern und Professoren."
„Ich hab´s gesehen."
„Hoffentlich geht´s bei mir etwas ruhiger zu."
Sally gab Meg keine Antwort und versuchte, den schweren Stein in ihrem Magen zu ignorieren. Ihr oranges Auge musterte den Horizont.
„Jetzt sind wir die Letzten", sagte Meg nach einer ganzen Weile: „Du und ich."
Sally schmunzelte, doch ihr Lächeln war eines der Melancholie. Meg hatte recht. Wenn die Krankenschwester den Kopf zur Seite drehte, konnte sie die fünf Grabhügel entdecken, die schon seit Jahren im Schatten der Palmen lagen und die jeweils mit einer verwitterten Erinnerung markiert waren. Auf dem ersten lag eine alte Knochenmaske, der zweite trug ein hölzernes Totem, der dritte eine verrostete Kettensäge, der vierte eine weiße Hasenmaske und im fünften steckte ein japanisches Schwert. Der letzte war kaum drei Wochen alt.
„Du weißt, ich könnte dir helfen", sagte sie und schaute wieder zu Meg: „Wir könnten noch eine ganze Weile die Letzten sein."
Doch Meg schüttelte den Kopf.
„Nein"
„Warum nicht?"
Die alte Dame in dem Rollstuhl ließ sich Zeit mit der Antwort. Trotz ihres hohen Alters fühlte sie sich ruhiger denn je. Es bestand absolut kein Grund zur Eile.
„Ich möchte es nicht", sagte Meg schließlich: „Es ist nicht nötig."
Sally nahm einen tiefen Atemzug. Es war nicht das erste Mal, dass sie Meg die Kraft des Nebels angeboten hatte und es würde auch nicht das letzte Mal sein. Sally hoffte immer noch, dass sie annehmen würde. Tief drinnen wusste sie allerdings, dass Meg ihre Entscheidung längst gefällt hatte.
„Manchmal frage ich mich, was sie noch alles hätte erreichen können", sagte Sally: „Wenn sie nur länger gelebt hätte."
„Dann wäre sie noch weitere zehn Jahre lang aufgestanden und hätte mich gefragt, wann Dwight endlich nach Hause kommt. Und ich hätte ihr jeden Tag die Wahrheit erzählen müssen."
„Ich verstehe immer noch nicht, warum du es nicht wie Gabrielle gemacht hast", murmelte Sally: „Du hättest ihr einfach sagen können, dass er auf der Arbeit aufgehalten wurde. Dann wäre sie jeden Abend ruhig eingeschlafen und hätte am nächsten Morgen sowieso wieder alles vergessen."
„Ja", nickte Meg und sagte nichts weiter dazu. In Gedanken versunken erinnerte sie sich daran, wie Claudette noch Jahre nach Dwights Tod jeden Morgen für vier Leute den Frühstückstisch gedeckt hatte. Der Alzheimer hatte sie schon lange vorher heimgesucht. Damals hatte sich sogar noch Dwight um sie gekümmert. Später waren es Gabrielle, Sally und sie selbst gewesen. Zuzusehen, wie eine so talentierte und begabte Wissenschaftlerin langsam ihr gesamtes Leben vergaß, hatte Meg jedes Mal einen Stich ins Herz versetzt und sie da auch noch anzulügen, das hatte sie einfach nicht mehr zustande gebracht.
„Jetzt ist es wenigstens vorbei", murmelte Sally nachdenklich: „Bei all der Liebe hat es doch an Gabrielles Kräften gezehrt. Irgendwie glaube ich sogar, dass sie sich selbst dazu entschieden hat, zu gehen."
Ein Lächeln fuhr über Megs schwache Lippen.
„Natürlich hat sie das."
Sally sah zu ihr auf. Sie hatte so viel Erfahrung mit dem Tod, doch wahrhaftig alt zu werden, das hatte sie noch nie erlebt. Sie wusste nicht, wie es sich anfühlte. Sie hatte keine Ahnung, was in jemandem vorging, der das Ende seines natürlichen Lebens erreichte und obwohl sie weit über hundert Jahre alt war, so würde ihre Uhr noch lange weiterticken.
Ein Seufzen entfuhr ihr. Sally wollte es sich kaum eingestehen, doch sie hatte Angst davor, die Letzte zu sein. Natürlich waren da immer noch Gabrielle und ihr Bruder, Megs wundervolle Drillinge und deren jüngere Schwester, Neas seltsame, doch liebenswürdige Tochter und darüber hinaus auch all die Enkelkinder derer, die vor Jahren in den Nebel entführt worden waren. Sally würde noch lange nicht allein sein. Doch sie würde die Letzte sein. Sie würde die einzige sein, die sich noch daran erinnerte, was vor all den Jahren geschehen war und sie würde sich niemandem anvertrauen können. Nicht wirklich. Nicht so, wie sie sich Meg hatte anvertrauen können.
Sally horchte auf. Für einen Moment dachte sie, dass die Flaute eingesetzt hatte und die Wellen verstummt waren. Eine angenehme Böe belehrte sie eines Besseren. Der Wind fuhr noch immer zwischen die Palmen und die Wellen schlugen noch immer an den Strand. Trotzdem fehlte irgendetwas. Irgendein Geräusch war verschwunden. Sally vermochte nicht, auszumachen, was es war, bis sie den Kopf zur Seite drehte und zu Meg blickte.
Die verwelkte Athletin saß friedlich in ihrem Rollstuhl. Auf ihrem silbernen Haar saß noch immer die Schildkappe, die sie bei so vielen ihrer Läufe getragen hatte und ihre Augen waren in wohliger Erinnerung geschlossen. Das sanfte Geräusch ihres Atems war verstummt.
Sally nahm einen tiefen Atemzug und die Luft zitterte in ihrem Hals. Dann beruhigte sie sich. Den Blick nach draußen über den Ozean gerichtet, saß sie einfach nur da und verfolgte, wie die rote Sonne langsam über den Horizont glitt.
Sie würde eine weitere schlechte Nachricht überbringen, einer weiteren Beerdigung beiwohnen müssen. Das war der Lauf der Dinge, Sally hatte es schon lange akzeptiert. Doch sie hatte Zeit. Schließlich würde sie überdauern und noch so lange im Nebel verweilen, bis sie nicht mehr gebraucht wurde. Allein. Und vielleicht, eines fernen Tages, würde sie Meg wieder in den Armen halten. Vielleicht.
„Sag Claudette einen schönen Gruß von mir", flüsterte Sally, als die Sonne endgültig in den Wellen versank und die rabenschwarze Nacht über sie hereinbrach. „Auf Wiedersehen"
