56.
Mein lieber Bruder,
ich weiß gar nicht recht, womit ich beginnen soll. Ich hatte eigentlich gehofft, dass wir uns von Angesicht zu Angesicht sehen, während ich in England bin. Doch Du scheinst mir auszuweichen. Und nicht nur mir. Also schreibe ich Dir erneut. Ein letztes Mal. Ich werde in den nächsten Tagen wieder nach Hause reisen. Vielleicht kommt Dir das ja auch gelegen.
Ich bin gerade bei Miss Granger, Severus. Ich dachte, ich besuche eine glückliche junge Frau, die dem Schicksal entkommen ist. Doch im Augenblick sieht es so aus, als wenn ich mich einmal mehr damit befassen müsste, das arme Ding wieder auf die Beine zu bekommen. Und wieder hat es mit Dir zu tun. Was hast Du ihr nur geschrieben? Ich kann es mir denken. Du machst es Dir zu einfach, Bruder. So einfach, wie Du es gern hättest, ist das Leben nicht.
Dein Brief erreichte Miss Granger heute Morgen, als wir frühstückten. Sie erkannte Deine Eule gleich und ließ sogleich alles stehen und liegen, um Deinen Brief zu lesen.
Ich weiß nicht, ob Dir bewusst war, was Deine Worte anrichten würden, als Du sie geschrieben hast.
Ihre Augen weiteten sich, je mehr sie lesen musste, und sie realisierte, dass Du ihr Deine Zuneigung verweigerst.
Nein, ich habe Deinen Brief nicht gelesen, doch das war auch nicht erforderlich. Man konnte es erraten.
Du hast ihr das Herz gebrochen, Severus. Sie konnte sich gar nicht beruhigen. Ich musste ihr einen Tee zubereiten, der sie jetzt schlafen lässt. Doch sie hat ein Kämpferherz, Bruder, und ich prophezeie Dir, dass sie es nicht darauf beruhen lassen wird.
Sie liebt Dich, so seltsam das auch anmuten mag, und sie wird darum kämpfen, dass Du offen und ehrlich zu ihr bist.
Miss Granger hat mich gebeten, Dir das Foto zurückzusenden, daher liegt es meinem Brief bei. Sie sagte, der Mann, den sie liebt, hätte es einst von ihr erhalten, da sich beide auf wundervolle Stunden zu zweit vor dem Kamin dort gefreut hätten.
Sie hätte keine Verwendung mehr für das Bild. Sie sagte zwar, Du solltest es verbrennen, wenn Du es nicht behalten möchtest, doch ich bitte Dich, dies nicht zu tun.
Geh in Dich, Severus. Fühlst Du denn gar nichts für sie? Wie konnten sich solch starke Gefühle in ihr entwickeln, wenn Du ihr nicht irgendwie Hoffnung geschenkt hättest? Worum ging es in Euren Briefen?
Finde wenigstens die Kraft und den Mut, Dich persönlich mit ihr auseinanderzusetzen. Das ist das mindeste, was Du ihr schuldig bist. Wie armselig ist ein kurzer Brief? Hat sie es nicht verdient, dass Du mit ihr redest?
Aber das ist das Problem, nicht wahr? Du hast es schon immer vermieden, Dich mit den Menschen um Dich herum auseinanderzusetzen, wenn Du dachtest, es könnte unangenehm werden. Wie kann ein gestandener Mann wie Du, der sich jahrelang kaum zu bewältigende Aufgaben aufgebürdet hat, zwischenmenschlich so versagen?
Wie kannst Du Dein Glück an Dir vorbeiziehen lassen, nur weil Du Dich dafür ein Stück weit öffnen müsstest?
Ein Leben in selbstgewählter Einsamkeit ist nichts für Dich, Severus. Hermine Granger will Dir nichts Böses. Sie möchte nur, dass Du Glück erfährst, und sie möchte dieses Glück für Dich sein. Du verdienst das, Severus.
Denk darüber nach. Und sprich mit ihr.
Ich reise am Wochenende ab.
Malicia