Alle Personen und Handlungsteile aus 'Harry Potter' gehören J., alle originalen Charaktere gehören Hebe GB, ich bin nur für die deutsche Fassung verantwortlich.

Leliha

Kapitel 1

In der Notaufnahme herrschte Hochbetrieb, wie immer am Samstagabend. Da waren die betrunkenen, schlägereigeschädigten, halb besinnungslos über den Plastikstühlen hängenden Fußballhooligans, die ehrgeizigen und begeisterten Heimwerker, deren Finger geringem handwerklichen Können zum Opfer gefallen waren, die jugendlichen Gruppenselbstmordversuche, die gebrochenen Gliedmaßen der Skateboarder, die Gartenbesitzer mit dem Wunsch nach einer Tetanusimpfung, und Brian…der sich einbildete, er könne fliegen.

Dr. Ellen Rafferty hatte die Patientenliste zu Beginn ihres Dienstes mit gemischten Gefühlen überflogen: Lustlosigkeit und Grauen, das Ganze gepaart mit Wut auf sich selber, weil sie sich bereit erklärt hatte, für den „kranken" Dr. Phillips einzuspringen. Dass er krank war, bezweifelte sie stark, er war bekannt dafür, gerne und ausgiebig zu feiern, und am Tag zuvor hatte der jährliche Sommerball stattgefunden. Sehr wahrscheinlich hatte er einen Kater und war zu feige, dies bei der Verwaltung einzugestehen. In einem schwachen Moment hatte sie sich bereit erklärt, eine doppelte Schicht zu übernehmen, aber jetzt, nach zehn Stunden Dienst und angesichts der Vorwürfe ihrer schmerzenden Beine und ihres dehydrierten Gehirns, fragte sie sich, wie um alles in der Welt sie dermaßen blöd hatte sein können.

Fast die gesamte Belegschaft hatte den Ball besucht – er war das Ereignis des Jahres und die Teilnahme daran ein Muss, lieferte er doch immer wieder genug Redestoff, um die Tratschmäuler des Krankenhauses auf Monate hinaus zu beschäftigen. Ellens Abwesenheit hatte bereits für Klatsch gesorgt. Die allgemeine Meinung war, dass Ellen die mitleidigen Blicke und die falsche Anteilnahme nicht ertragen konnte. Die allgemeine Meinung hatte recht. Ellen war nicht in der Stimmung zu feiern. Ihr fehlten jeglicher Antrieb, jegliche Energie und jeglicher Wille. Ihr fehlte auch jegliche Energie zur Arbeit, aber sie zwang sich dazu. Die Arbeit hielt sie vom Nachdenken ab und dafür war sie dankbar.

Sie überflog erneut die Liste, auf der Suche nach einem potentiellen „einfachen" Patienten, fand aber nur Fälle, bei denen alles mögliche schief gehen konnte. Als verantwortliche Ärztin was sie den ganzen Tag über nicht zu einer einzigen Pause gekommen. Noch nicht einmal ein kurzer Abstecher zur Toilette war möglich gewesen, ohne dass Kabine 3 gleich einen Herzstillstand erlitt; sie hätte dringend einmal fünf Minuten gebraucht, um ihren Kopf wieder klar zu bekommen. Die Patientenliste erschien ihr als der wahrhaftige Horrorkatalog, und sie war der Verzweiflung nahe, als Tom, der Oberpfleger, sie um Unterstützung bat, weil er Brian loswerden wollte.

„Wenn du mich fragst, ist er meschugge, sonst fehlt ihm nichts. Kannst du ihn nicht mal kurz durchchecken, damit wir Luft haben für die richtig Kranken?" bettelte Tom, die Hände dringlich wie zum Gebet gefaltet.

Normalerweise hätte Ellen diese Aufgabe an einen Assistenzarzt weitergeleitet, aber in ihrer jetzigen Lage schien es ihr, als seien ihre Gebete erhört worden. Also schnappte sie sich Brians Karteikarte aus Toms Arm und machte sich bereit für einen netten kleinen Plausch mit Brian…der sich einbildete, er könne fliegen.

Tom hatte Brian bereits in einem Nebenraum deponiert, fern ab von den Blicken der Öffentlichkeit und Ellen musste beim Anblick des älteren Mannes unwillkürlich schmunzeln. Er saß in aufrechter Haltung auf der Bettkante, die altersfleckigen Hände locker im Schoß gefaltet, die Augen geschlossen und das bärtige Gesicht entspannt. Er hätte als das Ebenbild heiterer Gelassenheit im Alter durchgehen können, wären da nicht seine lächerlichen Gewänder gewesen.

‚Karnevalskostüm,' war Ellens erster Gedanke, aber das leuchtend blaue, knöchellange, gut geschnittene Gewand sah aus wie regelmäßig getragen und passte zu seinem schneeweißen Haar und Bart, die beide bis zum Gürtel reichten.

‚Für ein Druidenkostüm wäre weiß passender gewesen', kritisierte sie im Stillen.

„Ich finde, weiß lässt mich zu engelsgleich aussehen", verkündete Brian, öffnete seine Augen und fixierte Ellen mit einem selbstbewussten Blick.

„…und ja, dies ist meine normale Kleidung. Völlig normal für einen Zauberer, meine Liebe…"

Ellen wollte schon über den Sarkasmus des alten Mannes lächeln, doch irgendetwas in seiner Miene sagte ihr, dass er es wirklich ernst meinte. Während sie überlegte, wie sie nun wohl am besten vorgehen sollte, musterte sie Brians runzliges Gesicht und fühlte sich angezogen von etwas Vertrautem in den klaren, blauen Augen, die nicht so recht in die greisen Züge passen wollten.

Sie zwang sich wieder zur Konzentration, räusperte sich, klickte mit ihrem Kugelschreiber und machte Anstalten, mit ihrer Untersuchung zu beginnen. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, stand Brian entschlossen auf. Er schnappte sich etwas, das aussah wie ein zu seinem Gewand passender Umhang von dem Stuhl neben dem Bett, steuerte geradewegs auf die Tür zu und bedeutete ihr, ihm zu folgen.

„Ich würde ja nur zu gerne all Ihre klugen Fragen beantworten – vielleicht ein andermal, wer weiß – aber im Moment brauche ich dringend Ihre Hilfe."

Ellen blieb stur stehen und funkelte ihn an.

„Ich versuche ja, Ihnen zu helfen, aber dazu müssen Sie mir erst ein paar Fragen beantworten, damit ich feststellen kann…"

Brian aber blieb hartnäckig und unterbrach sie mit nun nicht mehr verhohlener Ungeduld.

„Nun, meine liebe Ellen, ich weiß, dass Sie hier alle möglichen Arten von Behandlungen parat haben, denen ich mich Ihrer Meinung nach unterziehen sollte. Um Zeit zu sparen muss ich Ihnen sagen, dass ich mich keiner einzigen davon zu unterziehen gedenke. Ich habe mich schon genug gedulden müssen, bis Sie endlich zu mir gekommen sind und ich fürchte, dass mein Freund inzwischen dem Tod nahe ist. Ich halte Sie für eine großartige Heilerin und für seine einzige Chance zu überleben. Ich habe mir erlaubt, die Dinge zu packen, die Sie benötigen, wenn Sie mir nun also Ihre Hand reichen würden – wir müssen gehen."

Ellen wusste nicht, ob sie Ärger oder Angst verspüren sollte. Ihre Augen streiften kurz den Alarmknopf. War da etwa wirklich jemand in Gefahr oder war er tatsächlich verrückt und darauf aus, sie zu entführen? Sie hatte sich gerade dafür entschieden, den Alarmknopf zu betätigen, als Brians Hand in die Luft griff, aus dem Nichts ihren Notfallkoffer erscheinen ließ und ihn ihr mit einem deutlichen ‚plumps' vor die Füße stellte. Wie gelähmt vor Schreck über das Geschehen, konnte Ellen nur von Brian zu ihrem Koffer starren, während sie sich vorsichtig in die Richtung des Alarmknopfs bewegte. Kurz bevor sie ihn drücken konnte, sah sie, wie Brian mit erstaunlicherer Behändigkeit gleichzeitig nach ihrem Koffer und ihrer Hand griff. Einen Herzschlag später spürte sie, wie sie hochgehoben und bis fast zur Bewusstlosigkeit zusammengepresst wurde, ein Vorgang, der sich gleich darauf wieder umkehrte, und dann fand sie sich bäuchlings auf einem unbekannten, kahlen, schmutzigen Holzboden wieder, unter sich ihren Notfallkoffer.

„Was, zum Teufel…?" schrie sie und sah sich in dem dunklen Raum suchend um. Wo war ihr Entführer abgeblieben? Er schien nicht hier zu sein, wo auch immer ‚hier' war.

„Wo sind Sie? Was wollen Sie von mir?" rief sie mit wachsender Beklommenheit.

Keine Antwort. Langsam stand sie auf, wischte sich die staubigen Hände an ihrem Kittel ab und betrachtete ihre Umgebung noch einmal mit größerer Sorgfalt und Vorsicht. Der Raum war kaum möbliert. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an das Dämmerlicht und sie konnte gerade einmal einen Sessel und ein Tischchen ausmachen, nebst einem Sammelsurium von kaputtem Krimskrams und einigen Holzkisten.

Wo ist bloß die verdammte Tür? dachte sie verzweifelt.

Ein Fenster, halb verhängt mit etwas, das aussah wie ein Kartoffelsack, ließ etwas Mondlicht in den Raum. Einen Moment lang gab sie sich der Betrachtung des Musters hin, das das Licht auf die rohen Holzdielen warf, als ein winziges Geräusch hinter den Kisten sie aufschrecken ließ. Ellen griff hastig in das dritte Fach ihres Koffers und zog ein Skalpell heraus. Zur Selbstverteidigung entschlossen, schlich sie behutsam, Schritt für Schritt, in Richtung auf die Geräuschquelle, die Klinge entschlossen vor sich haltend. Mit ihrem Knie schob sie die Kiste zur Seite und erblickte zu ihrem Entsetzen einen schwer verletzten Mann, der in einer erschreckend großen Lache seines eigenen Bluts lag. Sofort erwachte die Medizinerin in ihr, sie eilte zu ihrer Ausrüstung und warf sich neben dem Mann auf den Boden.

„Hilfe! Ich brauche Hilfe! Brian, um Gottes Willen, helfen Sie mir!" schrie sie, während sie gleichzeitig die Verletzungen des Mannes begutachtete.

„Sir, können Sie mich hören? Sir, können Sie Ihre Augen öffnen und mich ansehen?" wiederholte sie mit wachsender Besorgnis.

Er war eindeutig bewusstlos und hatte eine große klaffende Halswunde. Automatisch und mit der Geschicklichkeit langer Berufspraxis schnappte sie sich eine Kompresse und riss die Verpackung mit den Zähnen auf, während ihre Augen auf eine freiliegende Arterie in seiner Wunde gerichtet waren und seinen kaum noch vorhandenen Puls kontrollierten. Sie presste die Wundränder mit aller Kraft und mit Hilfe ihres Knies und ihres gesamten Körpergewichts zusammen und drückte den Verband an seinen Hals um die Blutung zu stoppen.

Er braucht Flüssigkeit, er ist fast verblutet.

Ellens Hand fuhr in den Koffer und zog eine Tropfvorrichtung hervor. Der Mann war in eine Art akademischen Talar gekleidet, hochgeschlossen und zugeknöpft von oben bis unten. Ellen hatte keine Zeit für Knöpfe. Mit ihrem Skalpell schlitzte sie den Stoff auf und entblößte Brust und Arme des Mannes.

Gott, was ist er bleich. Es ist zu spät, sein Herz bleibt gleich stehen.

Mit professioneller Geschicklichkeit fand sie eine passende Vene und legte den Zugang. Dann verband sie ihn mit dem Flüssigkeitsbeutel, den sie sich über die Schulter hängte, und stellte den Tropf auf die höchste Stufe ein. Schnell suchte und tastete sie den Mann nach weiteren Verletzungen ab, aber ihre Bewegungen ließen den Verband verrutschen und die Blutung begann von neuem.

Ich muss die Wunde nähen.

Sie griff schnell nach ihrem Nähzeug, breitete es aus, ohne Rücksicht auf Sterilität, und zog den Faden in die Nadel. Die Kompresse ließ sie jetzt zu Boden fallen, so dass die Wunde wieder ungehindert auseinanderklaffte und sie das Ausmaß der Verletzung so schnell und so genau wie möglich erkennen konnte. Überall war Blut und behinderte ihre Sicht, aber ein kurzer Blick genügte, um festzustellen, dass nur eine kleine Arterie in Mitleidenschaft gezogen war, die großen Blutgefäße waren wundersamerweise alle intakt.

Jemand steht dir zur Seite, mein Lieber. Überhaupt, wo, zum Teufel, steckt Brian?

Sie tupfte das Blut von der verletzten Arterie und nähte sie mit ein paar schnellen Stichen. Während sie eine andere Nadel nahm, beschloss sie, den Rest der Wunde so schnell wie möglich zu schließen. Mit Riesenstichen packte sie das, was als gegenüberliegende Wundränder zu erkennen war und heftete sie zusammen. Sie nahm sich keine Zeit für die Präzision, auf die sie sonst so stolz war. Nach und nach ließ die Blutung nach und Ellen merkte, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Erleichtert atmete sie aus. Mit einem Zipfel seines zerfetzten Talars wischte sie sich den Schweiß von der Stirn, erneuerte den Flüssigkeitsbeutel und reduzierte die Fließgeschwindigkeit. Dann machte sie sich von neuem an die Arbeit und nähte die Wundränder geschickt zusammen. Das Ergebnis war hässlich, aber es erfüllte seinen Zweck, er blutete nur noch etwas an den Stellen, an denen die Haut ganz abgerissen worden war.

Was um alles in der Welt hat das verursacht?

Mit einem tiefen Seufzer betrachtete Ellen das blutdurchtränkte Chaos um sich herum. Der Mann war groß, aber trotzdem schätzte sie, dass sich mehr als die Hälfte seines Blutes auf dem Fußboden befand. Er brauchte eine Transfusion und zwar schnell. Und sie selbst brauchte Hilfe. Erneut rief sie nach Brian, aber wieder kam keine Antwort. Der totenbleiche Mann lag reglos vor ihr und Ellen fühlte sich hilflos ohne all ihre gewohnten technischen Hilfsmittel. Was hätte sie jetzt dafür gegeben, seinen Herzschlag an einem Monitor überprüfen zu können.

Im Moment war er warm, und atmete. Ellen hoffte verzweifelt, dass sie alles getan hatte, was sie hatte tun können und fing an aufzuräumen. Sie musste etwas Ordnung in dieses Chaos bringen. Schnell und effizient entsorgte sie ihre scharfen und spitzen Instrumente und packte alles andere wieder sorgfältig in ihren Koffer. Die Haufen blutgetränkten Stoffes und die Tupfer stopfte sie in einen Müllbeutel. Als sie sich über den Kopf des Mannes streckte, um die letzten Reste der blutigen Fetzen aufzuheben, fiel ein kleiner, glänzender Gegenstand herunter und landete in dem schulterlangen schwarzen Haar des Mannes. Sein Kopf war zur Seite gerollt, während seine Haarsträhnen auf dem staubigen, vom Blut klebrigen Boden haften geblieben waren, einem makabren Fächer gleich, mit dem glänzenden Objekt als Haarspange neben seinem Ohr.

Einen Moment lang dachte sie daran, ihm diesen Haarschmuck zu lassen. Es sah absurd aus, passte irgendwie zu den ganzen Geschehnissen dieses Abends, aber die ‚vernünftige' Dr. Rafferty gewann die Oberhand und sie griff vorsichtig nach dem Glitzerding.

„Wooahhh!" schrie Ellen.

Als wäre ein Wirbelsturm über sie hereingebrochen, fand Ellen sich plötzlich von der Fliehkraft gegen den Mann gepresst. Sie bewegten sich mit großer Geschwindigkeit, so viel war klar, aber Ellen hatte keine Ahnung wieso und wohin.

Einige Sekunden später ließ das Tempo nach, ähnlich wie bei einem Karussel am Ende der Fahrt, und genau wie einst als Kind auf dem Rummelplatz musste Ellen sich übergeben.

Als sich ihr Magen wieder beruhigt hatte, wischte Ellen mit dem Handrücken ihren Mund sauber und hob den Kopf.

Peinlich berührt stellte sie fest, dass das Erbrochene größtenteils auf dem Oberkörper des Mannes gelandet war, weitere Spritzer lagen auf ihrem Schlafzimmerteppich.

Mein Schlafzimmerteppich?? dachte sie verwirrt.

Was passiert hier? Wie kommen wir hierher? Vielleicht träume ich das alles nur, bin im Dienst eingeschlafen, müde genug war ich ja…

Sie zwickte sich und produzierte damit eine schmerhafte rote Stelle. Aber sie befand sich immer noch auf dem Boden neben ihrem Bett, zusammen mit einem schwerverletzten Fremden, der wahrscheinlich im Koma lag.