Kapitel 9: "Paris"

Die Königin von Luft und Dunkelheit erschien auf der dünnen Linie, die Licht von Schatten trennte.

Sie lächelte.

Diese Art zu reisen gefiel ihr.

Aber sie hoffte, dass das, was sie jetzt vor hatte, auch funktionierte.

Immerhin war der Ort an dem sie wollte, weit weg, und sie hatte das noch nie mit einem Ort probiert, an dem sie vorher noch nicht gewesen war.

Sie zog die kleine goldene Taschenuhr hervor, die weder glühte noch tickte.

Sie schloß die Augen und dachte an Steve…

Steve Leopard, dem Lord der Vampaneze, der Junge, der ihr ihr Herz gestohlen hatte, und von dem sie noch vor ein paar Tagen dachte, er müsse sterben und sie stünde vor der schweren Aufgabe, dabei tatenlos zuzusehen; zuzusehen, wie er im Sterben lag, wie sein Körper sich wand, und er Schmerzen litt…und das unglaubliche Glücksgefühl, als sein Herz wieder schlug, er die Augen wieder öffnete und sie ansah…

Die goldene Taschenuhr glühte sanft auf, und begann zu pulsieren.

Gillian lächelte versonnen.

So ruhig und gleichmäßig wie sein Herzschlag war, schlief er wohl noch…

Gillian steckte die Uhr vorsichtig zurück in ihre Korsage, wo sie warm nah an ihrem Herzen ruhte, und sah zu Boden.

Die glatte Fläche unter ihren Füßen wurde durchsichtig wie Glas und Gillian sah aus großer Höhe hinab auf ein verwinkeltes Durcheinander von Dächern und Strassen und Häusern.

Sie kniete sich hin, und sah hinab und die Sicht zoomte sich heran, wie ein Kartenausschnitt bis sie genau über einem Balkon mit einem schmiedeeisernen Geländer eines von Jasmin überwucherten Stadthauses schwebte.

Da will ich hin, lächelte Gillian, und löste sich auf wie Tinte in Wasser.

Gillian erschien auf dem Balkon hoch über dem Viertel Montmartre und blickte versonnen auf das blinkende, glitzernde Lichtermeer von Paris.

Die Luft roch stark nach Jasmin und eine warme Sommerbrise erfasste ihr Haar und wehte es herum, dass es sie umspülte, als läge sie in Wasser.

Alles hier war anders, die Luft, die Häuser, die Strassen, die Autos und es tat gut, das Gefühl zu haben, weit weit fort zu sein…fern von all dem, was Geschehen war.

Gillian atmete mit einem langen Seufzer aus, und die Anspannung der vergangenen Tage, ja Wochen, fiel von ihr ab.

Ich habe noch nie in meinem Leben Urlaub gemacht, dachte sie.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Paris ist ein guter Ort, um damit anzufangen.

Eine Hand legte sie auf das schmiedeeiserne Geländer vor ihr, die andere kam auf dem leise pochenden Gegenstand über ihrem Herzen zu ruhen.

Er schlief noch und sie wollte ihn nicht stören.

Andererseits sehnte sie sich auch danach, ihn zu sehen.

Sie hatte seither noch nicht richtig mit ihm sprechen können.

Sie riß sich vom Anblick der Stadt unter ihr los, stieß sich vom Geländer ab und betrat die kleine Wohnung durch die offene Balkontür.

Das Schlafzimmer grenzte an die kleine plüschig eingerichtete Wohnstube, die Fenster waren gegen die Sonne am Tag fest verschlossen worden.

Gillian huschte hinüber zu den Fenstern und zog leise die Rollläden hoch.

Das Licht der Stadt reichte aus, dass Gillian im Dunkeln die Gestalt erkennen konnte, die zur Seite gerollt in dem großen behaglich aussehenden Bett lag.

Steve Leopards Augen waren geschlossen und er atmete ruhig und gleichmäßig.

Gillian trat ans Bett und betrachtete ihn eine Weile.

Im Schlaf sah er so friedlich aus, so fern von Schmerzen und Sorgen und Kampf.

Er sah aus, als könne er keiner Fliege ein Leid tun.

Und doch tötete dieser Junge regelmäßig Menschen, um seinen Blutdurst zu stillen.

Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte Gillian erschossen, anstelle von Larten Crepsley, er hatte die Vampaneze in einem gnadenlosen Kampf gegen die Vampire angeführt, einen hinterhältigen Angriff auf Vampire Mountain geplant, und nicht zuletzt hasste er Darren Shan so sehr, dass er ihn unbedingt hatte in den Tod reißen wollen, auch wenn er selbst dabei mit drauf ging…

Gillian schlüpfte aus ihren Stiefeln, und kroch neben dem Lord der Vampaneze unter die Bettdecke.

Er schlug die Augen auf und sah sie schläfrig an.

„Hi", sagte Gillian.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Hi Baby."

Sie küsste ihn auf die Wange. „Wie war der Flug?"

Er richtete sich auf einen Ellbogen auf und verzog das Gesicht. „Furchtbar. Achtzehn Stunden in einem Sarg."

Gillian lachte leise. „Ich liege gerne in einem Sarg. Und ich habe schon weitaus längere Zeit in einem verbracht."

Steve grinste. "Ich ziehe ein großes, weiches Bett vor." Er breitete einladend seinen Arm aus. "Eines mit dir darin."

Gillian lächelte und rutschte an ihn heran.

Sie legte sich auf seinen Arm und kuschelte sich an seine Schulter. „Hast du dir schon die Stadt angesehen?", fragte sie.

„Nein, es ist noch nicht lange dunkel, und ich wollte auf dich warten." Er sah sie forschend an. „Wo warst du?"

Gillian zögerte.

„Du warst bei IHM", sagte er vorwurfsvoll.

Gillian schwieg.

Sein Gesicht verzog sich vor Wut.

Er schob sie von sich herunter.

Gillian setzte sich auf.

Es war besser, gar nicht erst mit dem Lügen anzufangen.
„Ja, ich war bei Larten Crepsley."

Steve schnaubte angewidert.

„Wir hatten viel zu besprechen…"

„Besprechen?", sagte er höhnisch.

Schnell sagte Gillian: "Ich habe ihm gesagt, dass du mit den Vampirfürsten verhandeln wirst. Das es keine weiteren Kämpfe geben wird. Das niemand gewonnen hat, und dass jetzt die Regeln ausgehandelt werden…"

„Regeln?", fragte er und kniff die Augen zusammen. „Was für Regeln?"

„Regeln damit Vampire und Vampaneze in Zukunft miteinander auskommen und einander in Ruhe lassen."

„Zum Beispiel?" Er kreuzte trotzig die Arme vor der Brust.

„Zum Beispiel, dass niemand einen anderen Bluttrinker töten darf, egal ob Vampir oder Vampaneze. Alle müssen sich daran halten. Ich werde es merken, wenn jemand stirbt."

Er runzelte die Stirn.

„Außerdem Regel Nummer zwei: Die Menschen dürfen nichts von uns erfahren."

Sie sah ihn trotzig an.

„Ist das alles?", fragte er mit leiser Ironie in der Stimme.

„Mehr hab ich mir noch nicht überlegt…", murmelte Gillian etwas verlegen.

„Und du glaubst, dass die Vampire darauf eingehen werden?"

„Sie müssen. Und du musst dafür sorgen, dass die Vampaneze sich auch daran halten."

„Ich muß gar nichts, Gillian!"

„Gut…vielleicht nicht", lenkte Gillian ein. „Hast du einen besseren Vorschlag?"

„Als ob du Wert auf meine Meinung legen würdest… du hast dir mit Crepsley doch schon alles zurecht gelegt!", fuhr er auf.

„Larten hat damit nichts zu tun…"

„Larten!", höhnte er. Er kniff die Augen zusammen. „Hast du ihn geküsst?"

Gillian biß sich auf die Unterlippe.

Jetzt wurde es schwierig.

„Steve…"

Sie zögerte zu lange mit der Antwort, sein Gesicht verzog sich vor Wut.

Er schnaubte verächtlich, und sprang auf.

„Steve warte!" Gillian beeilte sich, vom Bett zu rutschen und schnappte nach seinem Handgelenk.

Er schlug ihre Hand fort, und lief zur Tür.

Sie setzte hinterher.

Hastig langte sie erneut nach seinem Arm, und hielt ihn fest.

Sie zog ihn herum und warf ihn so heftig gegen die Wand, dass diese erzitterte, und beinahe ein Bilderrahmen mit Blumenaquarellen heruntergefallen wäre.

Steve knurrte, doch Gillian drückte seine Schultern gegen die Wand, so dass er sich nicht rühren konnte und sie ansehen musste.

Sie war stark.

„Ja, ich habe ihn geküsst", fauchte sie. „Aber nicht so! Nicht so, wie ich dich küsse."

Er knurrte wieder, und wand sich unter ihrem Griff.

„Steve, er war tot! Du hast ihn erschossen!"

Seine violetten Augen flammten vor Zorn. „Und jetzt hasst du mich!"

„Ich hasse dich nicht, Steve! Ich habe dich nie gehasst. Selbst…selbst dann nicht."

Er sah sie nicht so an, als könne er ihr glauben.

Er packte ihre Hüften und wollte sie von sich fortschieben.

„Steve… Mr Tiny wollte, dass ich dich töte!", rief sie verzweifelt.

Er stutzte.

Schnell fuhr Gillian fort: "Er wollte, dass ich dich hasse, er wollte, dass ich dich töte und in meinem Hass auf dich, den Lord der Schatten freisetze."

Er öffnete den Mund, wusste aber nicht, was er sagen soll.

Gillian nahm den Druck von seinen Schultern.

„Aber Tinys Plan ist nicht aufgegangen, ich konnte dich nicht hassen. Ich habe dich nie gehasst. Im Gegenteil…"

Ihre Stimme wurde leiser.

„Auch nicht, als ich Crepsley…?", fragte er vorsichtig.

Gillian schüttelte den Kopf. „Das war schlimm. Sehr schlimm sogar. Ich dachte…ich dachte, ich habe ihn für immer verloren. Es… es war entsetzlich."

Sie holte Luft.

„Aber ich verstehe, warum du es getan hast, und ich an deiner Stelle hätte vielleicht dasselbe…" Sie verstummte.

Steve sah sie an.

Ihre Hände legten sich um seinen Nacken.

„Ich konnte dich nicht töten, ich wollte es nicht. Ich habe dem Lord der Schatten widerstanden. Dabei besteht er aus purem Hass. Das war…ich kann das nicht beschreiben, ich habe gehasst…sehr sogar…aber es war nicht mein Hass, es war… ER."

Die Finger ihrer rechten Hand begannen sanft die glatte Haut an seinem Hals zu streicheln.

„Es hätte mich getötet. Ich wäre innerlich dabei zerrissen worden…"

„Hast du deswegen geblutet?", fragte er. „Der Lord der Schatten hat dir das angetan?"

Gillian nickte.

Das hatte er nicht gewusst.

„Aber…wie bist du ihm dann entkommen?", fragte er.

Gillian seufzte. „Ich habe mich in die Grube hinabgestürzt."

Steve glotzte sie an.

Gillians Stimme war belegt, als sie fortfuhr: „Ich wollte nicht mehr leben, es hatte keinen Sinn mehr. Wenn ich die Wahl hatte, dich zu töten, oder mich selbst..."

Ihm blieb der Mund offen stehen.

„Auf diese Weise wärest du vielleicht gerettet worden…" Sie legte ihren Kopf an seine Schulter.

Er zog sie an sich. „Aber… aber wie kommt es, dass du noch lebst?"

„Der Lord hat mich gerettet."

Sie hob den Kopf. „Als ich mich opferte, hat der Lord mich auf die andere Seite gebracht… weil das das Gegenteil von ihm war…erst der Schatten zeigt das Licht." Sie runzelte die Stirn.

„Zumindest glaube ich, dass es so gewesen ist. Ganz verstehe ich das auch nicht. Aber der Schatten ist aus mir raus, und ich konnte zurückkehren. Weil…weil ich zur Königin von Luft und Dunkelheit wurde."

Das klang alles ziemlich verrückt, aber Steve hörte ihr aufmerksam zu.

Schließlich war es verrückt genug, dass er noch hier war und atmete.

„Aber wann war das…?", fragte er verwirrt. „Ich kann mich nicht erinnern, dass du in die Grube gestürzt wärest…"

„Tiny hat die Zeit angehalten. Er hat auf mich gewartet, dass ich zurückkehre und dann hat er mich gezwungen zuzusehen, wie du mit Darren kämpfst. Ich durfte nicht eingreifen, und musste zusehen, wie du stirbst. Das war… das war furchtbar." Ihr Gesicht verzog sich bei dem Gedanken daran.

Steve schluckte ebenfalls.

Gillian schlang die Arme um seinen Nacken und drückte ihr Gesicht an seinen Hals.

„Aber ich bin nicht gestorben. Du hast mich gerettet."

„Ja…", hauchte sie. "Ich konnte dich nicht gehen lassen. Ich hätte gemusst, ich sollte…aber ich konnte es nicht."

Er drückte sie an sich.

Sie sah zu ihm auf. „Verstehst du jetzt, wie viel du mir bedeutest?"

Seine Augen wurden feucht.

„Ich…ich hab dich nicht verdient", murmelte er.

Gillian runzelte die Stirn.

„Ich war nicht so stark, wie du. Ich wollte dich töten." Er schluckte. "Ich habe dich gehasst, und ich hatte keinen Lord der Schatten in mir…"

„Nein, Steve, du hast mich nicht gehasst…", hauchte sie, doch seine Augen füllten sich mit Tränen.

„Doch habe ich!", rief er. „Ich wollte dich erschießen, nicht Crepsley!"

Gillian zuckte zusammen bei dem Klang seiner Stimme.

Seine Lippen zitterten.

„Nein, nein, das stimmt nicht…" Sie küsste seine Wange, über die jetzt Tränen herabliefen. „Das wolltest du nie…"

„Doch, Gillian", sagte er und ein harter Ausdruck trat in sein tränenbeschmiertes Gesicht. „Ich hätte es fast gemacht."

Gillian erinnerte sich an den Hass in seinen Augen, kurz bevor er die Waffe auf Crepsley herum geschwenkt hatte.

„Ich bin böse", zischte er.

Sie packte seinen Nacken, und sah ihm fest in die Augen: "Du bist nicht böse."

Er verzog den Mund. „Wie kannst du das sagen, du hast mein Blut getrunken, du weißt, das ich Des Tinys Sohn bin…"

„Scheiß auf Tiny!", schrie sie. „Unsere Mütter waren Huren und unsere Väter Bastarde! Fick sie doch alle! Wir brauchen sie nicht!"

Steve erschrak über die Heftigkeit ihrer Worte. Ihre Hand krallte sich in seinen Nacken, ihre Fingernägel kratzten ihn schmerzhaft dabei.

„Wir brauchen sie nicht", wiederholte sie. "Du bist nicht Tiny."

Steve Leopard sah sie aus brennenden Augen an. Er wollte ihr so gerne glauben.

„Aber er ist mein Vater…", hob er an, doch auf Gillians Stirn erschien eine zornige Falte.
„Du hast keinen Vater! Und ich auch nicht!"

Er wischte sich mit einer Hand die Tränen von der Wange.

Ihr Gesicht war zornverzerrt, und es machte ihm Angst.

„Gillian…? Du hast mir nie erzählt, was mit deinem Vater…"

Ihre Finger krallten sich fester in seinen Nacken.

Doch er fuhr fort: "Murlough hat damals deine Mutter gefunden, aber deinen Vater konnte er nicht ausfindig machen…"

„Weil es ihn nicht gibt", knurrte sie, und fletschte die Zähne.

Ihre Augen glühten rot.

„Du…weißt etwas über ihn, oder?"

Ein gequälter Ausdruck trat in ihre Augen.

Sie konnte ihn nicht ansehen, und blickte zu Boden.

„Steve… das…willst du nicht hören, glaub mir."

Er schluckte. „Warum nicht, Gillian? Mir kannst du es sagen."

Ihre Atmung beschleunigte sich.

Er sah, wie sie mit sich kämpfte.

„Du…du musst versprechen…mich nicht abstoßend zu finden….", flüsterte sie.

Steve sah Gillian verdutzt an. „Abstoßend?" Er lachte leise. „Ich könnte dich nie abstoßend finden!"

Sie klammerte sich an ihn.

Er streichelte ihr beruhigend den Rücken.

Gillian war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, es ihm zu sagen, und der Angst davor, dass er sie dann mit anderen Augen sehen würde.

Sie hatte das noch nicht einmal Larten Crepsley sagen können.

„Sie…", sagte sie leise und stockend. „Sie haben…meine Mutter… vergewaltigt…", flüsterte sie an seiner Schulter. „Bei einer Art…schwarzen Messe…"

Ihre Stimme war tränenerstickt.

Steve lief ein kalter Schauder über den Rücken.

„Ich…weiß nicht…wer…von ihnen…mein Vater…ist", fuhr sie gepresst fort. „Es waren mehrere Männer…hintereinander…in derselben Nacht. Sie war siebzehn."

„Oh, Gillian….", hauchte Steve.

Ihr Kopf ruckte hoch. In ihrem Gesicht stand pure Abscheu.

„Ich sagte doch, du willst das nicht hören!", rief sie. „Jetzt findest du mich abstoßend!"

Tränen schossen ihr aus den Augen, und sie drehte sich weg und wollte davonlaufen.

Steve hielt sie fest.

„Nein, das finde ich nicht! Niemals!", rief er hastig und zog sie zu sich.

Sie wehrte sich, doch er schlang seine Arme um sie, und wiegte sie tröstend. „Ssschhh…das tue ich nicht… du bist nicht abstoßend. Du bist wunderschön. Scheiß auf unsere Väter!"

Sie zitterte am ganzen Körper.

Er fuhr ihr durchs Haar.

Sie klammerte sich an ihn.

„Scheiß auf sie…", murmelte er an ihrem Haar.

Gillian beruhigte sich, als er sie so hielt.

„Steve…? Ich habe Tiny getötet", sagte sie nach einer ganzen Weile.

„Du…?"

„Ich habe ihn getötet, und er kann nicht wiederkommen. Vorerst nicht."

Steve sah sie mit offenem Mund an.

Gillian sah zu ihm auf. „Du musst keine Angst mehr vor ihm haben."

Steve schluckte.

„Außerdem…", murmelte sie und beugte sich mit den Lippen zu seinem Hals "… habe ich dein Blut getrunken. Es ist nicht böse. Es schmeckt köstlich."

Steve spürte ein Prickeln, als ihre Lippen seinen Hals an einer empfindlichen Stelle berührten.

„Ah", eine Gänsehaut durchfuhr ihn, und er kringelte sich.

Gillians Kopf folgte ihm, und ihre Lippen suchten die Stelle wieder, die in ihm eben eine solche Reaktion hervorgerufen hatte.

Seine Hände wanderten an ihren Hüften herab.

Gillian fand die Stelle und biß ihn vorsichtig.

Ihr Herz begann zu pochen, und die Uhr glühte heißer.

„Gillian…", keuchte er, und sie ließ von ihm ab.

Er schob sie von sich fort auf Abstand.

Er sah das Glühen in ihrer Korsage und Gillian folgte seinem Blick.

Sie zog die kleine Uhr an ihrer Kette hervor, und sie zeigte sie ihm auf dem offenen Handteller.

Das Pulsieren beschleunigte sich.

„Ich habe sie benutzt, um dich am Leben zu lassen."

Er starrte mit einem ähnlichen Gesichtsausdruck darauf wie Larten Crepsley.

„Du hast damit auch Crepsley zurückgeholt."

Gillian seufzte. „Ja."

„Aber wie…? Er war tot. Kannst du Tote…?"

„Nein", sagte sie rasch. „Ich habe es nur bei Crepsley gekonnt. Weil… weil sein Blut in mir ist."

Steve starrte sie an.

Gillian biss sich auf die Unterlippe. „Sein Blut ist in mir, und nun ist auch mein Blut in ihm. Wir sind miteinander verbunden."

Er runzelte die Stirn: "Murloughs Blut ist in dir, du bist sein Abkömmling."

„Nein, Steve. Ich habe gelogen. Ich bin Larten Crepsleys Abkömmling."

Sein Gesicht verzog sich wieder vor Zorn. „Du hast gelogen? Aber… ich hab gesehen, wie er dich gebissen hat, und du ihn!"

Gillian seufzte. „Larten hat mich ausbluten lassen, und mir sein Blut gegeben. Sein Blut ist es, das mich verwandelt hat."

Hastig fuhr sie fort: "Ich habe die Vampaneze angelogen, nicht dich, ich wollte das Gannen Harst mir das Grab des Schattentänzers zeigt."

Sein Blick wurde kalt. „Murlough, Gannen und Tiny. Du und Crepsley, ihr beide habt jeden einzelnen von ihnen getötet, jeden, der mir nahestand."

„Den Dreien solltest du nun echt nicht hinterher weinen!"

Er blickte sie empört an.

„Ist dir das denn nicht klar? Gannen Harst hat mit Tiny unter einer Decke gesteckt! Er wollte, dass ich das Grab des Schattentänzers finde. Tiny hat dafür gesorgt, dass ich Harst aufsuche, sie wollten, dass ich den Lord der Schatten in mich aufnehme. Wahrscheinlich hat Harst gewusst, dass ich sterben werde, wenn ich ihn freilasse. Vielleicht wusste er sogar, dass Tiny plante, dass ich dich am Ende töte."

Sie wartete seine Reaktion ab.

In seinem Gesicht arbeitete es.

„Ich wusste es auch", sagte er verlegen.

Schockiert blickte Gillian ihn an.

„Aber ich wusste nicht, dass es dich töten würde!", fuhr er rasch fort. „Murlough wollte dich haben, er wollte eine Vampaneze aus dir machen. Sie wussten von deinen Schattentänzerfähigkeiten, und sie wollten, dass du den Lord der Schatten in dich aufnimmst. Sie haben gesagt, du wärest eine wichtige Verbündete im Kampf."

Gillian sah ihn traurig an.

„Ich wusste nicht, dass es dich töten würde", sagte er flehend. „Und natürlich wusste ich erst recht nicht, dass Tiny wollte, dass du auf mich los gehst. Ich frage mich…ich frage mich, ob Gannen es gewusst hat."

„Vielleicht nicht", sagte Gillian, da er ihr Leid tat.

Steve kaute auf seiner Unterlippe. "Wahrscheinlich doch… er…er hat gesagt es sei wichtig, dass du in meiner Nähe bleibst…", murmelte er traurig.

Ein Schweigen trat ein.

„Weißt du….", sagte Gillian nach einer Weile. „Ich bin ganz froh, dass Murloughs Blut nicht in mir fließt." Sie lehnte sich wieder dichter an ihn. „Wenn ich auch sein Abkömmling wäre, dann wären wir so etwas wie Bruder und Schwester."

Sie fuhr ihm mit einem Finger über die Lippen. „Und dann wäre das hier, doch etwas merkwürdig…" Sie küsste ihn langsam.

Er schloß die Augen.

Sie löste sich wieder von ihm, und er sah ihr auf den Mund.

Gillian lächelte verführerisch.

Er lachte leise.

„Ja, das wäre wohl ein wenig merkwürdig."

Er zog sie zu sich ran.

„Aber ausgerechnet Crepsleys Abkömmling…?", maulte er.

„Er ist in Ordnung, Steve. Ich hoffe, du wirst ihn noch kennenlernen."

Er verzog das Gesicht, als hätte er auf etwas Saures gebissen.

„Weiß er, dass du hier bist?"

„Ja."

„Wie hat er es aufgenommen?"

Gillian seufzte. „Er ist nicht begeistert."

Das freute Steve sichtlich.

„Aber er akzeptiert es", sagte sie.

„Du hast ihn geküsst!", erinnerte sich Steve wieder aufgebracht.

Sie schüttelte den Kopf. „Nicht so! Nicht wie ich dich küsse!", wiederholte sie.

Ihr traten Tränen in die Augen. „Begreifst du denn nicht? Ich bin hier, bei dir!"

Sie drängte sich an ihn. „Du hast ihn mir genommen, du hast den Menschen getötet, der mir am meißten auf der ganzen Welt bedeutet, aber ich habe dir verziehen! Ich habe die Uhr benutzt, weil ich den Gedanken nicht ertragen habe, dich zu verlieren, ich habe dir verziehen, obwohl du mir so sehr wehgetan hast, ich habe es vorgezogen selber zu sterben, anstatt dich zu töten, ich…ich…" Sie hatte immer schneller geredet, und atmete hektisch.

„Sschhhh….", machte Steve, und zog sie in seine Arme.

Sein Herz klopfte aufgeregt.

Gillian krallte sich in sein T-Shirt und vergrub ihr Gesicht an seinem Hals.

„Was willst du noch von mir?", schluchzte sie.

„Gar nichts", versicherte er schnell. "Gar nichts", und zog sie fest in seine Arme.

Plötzlich tat ihm sein Verhalten leid.

„Ich wollte dir nicht wehtun…das wollte ich nie", sagte er reumütig.

Gillian schniefte und sah auf.

Ihre Blicke suchten einander, und Gillian ertrank in den Tiefen seiner violetten Augen, die noch immer feucht von Tränen glänzten.

Beide atmeten aufgewühlt.

Steve legte den Kopf schief und beugte sich vor.

Seine Lippen berührten ihre, und sie kam ihm entgegen.

Ihre Münder umschlossen einander und ihre Lippen versuchten ihre Sehnsucht zu stillen.

Als Gillian Steves Zunge in ihrem Mund spürte, drängte sie sich dichter an ihn, und sie gab einen unterdrückten Laut von sich.

Ihre Zungenspitze kitzelte seine, und ein Kribbeln breitete sich in ihrem Magen aus.

An ihrer Brust pochte die Uhr in einem schnelleren Rhythmus.

Er ließ von ihr ab, und sah sie schwer atmend an.

„Gillian…", flüsterte er.

Er küsste ihr die Spuren der Tränen vom Gesicht, und schmeckte das Salz und das Blut darin.

„Ich konnte dich vor gar nichts bewahren. Ich habe dir nur wehgetan", flüsterte er und sah sie an.

„Nicht nur…", hauchte sie.

„Wie kann ich das wieder gut machen?"

Gillian lächelte und ihre Augen funkelten ihn an. „Indem du ab und zu auf mich hörst…"

Steve lachte leise auf.

Sie gab ihm einen Schmatz auf den Mund, packte ihn dann vorne am T-Shirt und zog ihn zurück zum Bett.

Er biß sich auf die Unterlippe und ließ sich willenlos von ihr auf die Matratze ziehen.

Sie rutschte hoch bis zum Kopfende, und Steve folgte ihr.

Er legte sich auf sie, und vergrub sein Gesicht an ihrer Brust.

Gillian streichelte sein Haar.

„Steve?"

„Was…?", murmelte er zwischen ihren Brüsten.

Sie zog ihn an den Haaren, so dass er sie ansehen musste.

„Kann ich mir etwas von dir wünschen?"

Er sah sie ernst an. „Alles, was du willst", sagte er fest und meinte es so.

Gillian strich ihm mit dem Finger über das Gesicht, und forschte in seinen Augen.

„Ich möchte dir in die Augen sehen. In deine richtigen Augen. Ohne den violetten Glanz."

Steve schluckte.

Er verstand, was sie da von ihm verlangte.

„Daaas…wird nicht einfach…", sagte er gedehnt.

„Bitte", sagte sie schlicht. „Ich möchte, dass du mich mit deinen richtigen Augen ansiehst."

Er hatte es versprochen.

„Ich…gebe mir Mühe", sagte er vorsichtig.

„Danke", hauchte sie.

Steve verbarg sein Gesicht, das drohte rot anzulaufen, an ihrer Brust.

Sie fuhr ihm durchs Haar und drückte ihn ganz fest an sich.

Steve Leopard, der Lord der Vampaneze, schlang die Arme um sie, und klammerte sich ganz fest an den einzigen Menschen auf der Welt, der ihm etwas bedeutete, der ihm mehr bedeutete, als sein eigenes Leben.

All die Anspannung fiel von ihm ab, und er hatte das Gefühl, zum ersten Mal in seinem Leben, das er eine Chance hatte, glücklich zu sein.

Denn er hatte jemanden gefunden, der ihn so liebte, wie er war.

„Lass uns die Stadt erkunden", sagte Gillian und fuhr ihm durchs Haar.

„Ok", murmelte er noch immer an ihrer Brust.

Gillian zog seinen Kopf unsanft an den Haaren hoch. „Dann musst du aber aufstehen!", lachte sie.

Er wälzte sie beide herum, und richtete sich auf.

Er sah auf Gillian herab, ihr Haar war sternenförmig auf den Laken verteilt, und ihre Augen funkelten ihn an

Wie sie strahlte…

„Ich finde unser Zimmer auch ganz nett", grinste er.

„Steve!", lachte Gillian und versuchte ihn von sich zu drücken, doch er wog zu schwer.

Er beugte sich herab, und küsste Gillian am Hals.

Sie seufzte, als auch er eine empfindliche Stelle traf.

Er grinste sie an.

„Was meinst du? Schmeckt Franzosenblut anders?"

Gillian sah ihn empört an.

Er hob gespielt eine Augenbraue. „Was?"

Gillian lachte. "Du bist unverbesserlich!"

„Stimmt", grinste er und beugte sich herab, um sie zu küssen. „Besser geht nicht", flüsterte er an ihren Lippen.

Gillian konnte ihm nicht länger widerstehen und zog ihn in einen langen Kuss.

ENDE

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