Neon Genesis Evangelion – FanFiction

Retelling a Story
- Uncut -

(Abzweigung 05.5)

von Ulrich-Alexander Schmidt

Fassung vom 01.01.2012

Legal Boilerplate:

NGE und die Charaktere sind Eigentum von GAINAX, etc. pp.

Sämtliche Fehler in der Charakterisierung sind ganz allein mir selbst zuzurechnen. Die Veränderung einzelner Charaktere in ihrer Motivation und/oder ihres Hintergrundes und ihrer darauf begründeten Handlungsweise ist beabsichtigt.

Diese FanFiction enthält:

Spoiler, endlose langweilige Dialoge, Warm and Fuzzy Feelings, Asuka in Bestform, Sex, Drogen und sinnlose Gewalt
- Ihr wurdet gewarnt -

Ach ja, dies ist die FSK 16 - Version.

Nein, es gibt keine anderen Versionen mit anderen Empfehlungen.

Alle Figuren, die nicht Eigentum von GAINAX sind, sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden, toten oder sonstigen Personen ist unbeabsichtigt und daher rein zufällig.

Mich verklagen zu wollen, würde nichts bringen, schließlich habe ich kein Geld…

Zu riesigen Problemen essen Sie bitte die Packungsbeilage und fragen Sie den Arzt Ihres Apothekers.

Retelling a Story - Uncut ist die erweiterte und überarbeitete Fassung der Version von Retelling a Story aus dem Jahr 2002; sie enthält zusätzliche Szenen, Dialoge und Charakterisierungen

Vorwort des Autors

Mein erster Kontakt mit Neon Genesis Evangelion fand im Herbst 2000 statt.
Damals strahlte der Sender VOX die Serie in mehreren Blöcken aus. Offenbar war ich nicht der einzige, der von Hideaki Annos Werk fasziniert war. Zugleich wurde eine kreative Seite in mir angesprochen, die schon eine Weile brachgelegen hatte – während meiner Studienzeit hatte mir im Großen und Ganzen die Zeit gefehlt, schriftstellerisch tätig zu werden, doch nun stand ich in den Examensvorbereitungen und hatte nach den Klausuren Zeit. In dieser Zeit entstanden mehrere FanFictions, deren Umfang mit jedem Mal stieg. Während das erste Werk noch unter dem Titel „What if?" lief und die nächsten beiden unter „Abzweigungen", landete ich schlussendlich beim endgültigen Titel „Kreuzwege". So entstanden schließlich auch eine Alternate Universe-Story, welche auf dem Schnipsel in der letzten Episode basierte, und Retelling a Story (oder kurz: RaS). Als ich RaS fertig und in Umlauf gebracht hatte, holte mich der Ernst des Lebens wieder ein und RaS setzte quasi auf meiner Festplatte Staub an.
Letzten Herbst hatte ich endlich wieder Luft und stolperte über die Tatsache, dass es tatsächlich ein Neufassung von Neon Genesis Evangelion gab – als ich mich zuletzt dahingehend informiert hatte, war alles noch ein Gerücht gewesen. Also besorgte ich mir Rebuild 1&2 – ich hatte lange genug „geschlafen", dass es bereits eine deutsche Synchronisation gab – und spürte die alte Faszination wieder.
Ich habe Retelling a Story aufpoliert, die Rechtschreibung überarbeitet und nahezu an jedem Kapitel Änderungen und Ergänzungen vorgenommen.

Eine gute FanFiction basiert nach meiner Ansicht auf einem einfachen, aber manchmal nur schwer umzusetzenden Konzept: Man nehme die Ursprungshandlung und setze an einem bestimmten Punkt an. Je näher die Charaktere zu Beginn dem Original entsprechen, umso interessanter wird die Frage: Was passiert, wenn man hier ansetzt? Wie wirkt es sich aus, wenn eine bestimmte Voraussetzung wegfällt oder verändert wird? Natürlich kann man auch den brutalen Ansatz wählen und einem Charakter ein Klavier auf den Kopf fallen lassen, damit er ein Nahtod-Erlebnis hat und sich in seinem Denken und Verhalten etwas ändert, langsame und eher subtile Veränderungen wirken aber doch irgendwie glaubhafter.
Aus diesem Grund dürfte der Anfang von Retelling a Story jedem reichlich vertraut erscheinen, der die Serie kennt. Ich benutze Elemente des Mangas und habe auch ein paar Motive von Rebuild übernommen. RaS enthält mehrere Figuren, die meine eigenen Schöpfungen sind, darunter mein Signaturcharakter Wolf Larsen (welcher wiederum eine Verbeugung vor dem Werk Jack Londons darstellt). Natürlich ist klar, dass Fremdcharaktere zusätzliche Rädchen im Getriebe darstellen, die Einfluss auf die Handlung nehmen – auch hier gilt zu vermeiden, dass sie die Hauptcharaktere verdrängen und in den Schatten stellen. Zwei weitere Eigenschöpfungen sind das PROPHET-Interface und der UN-Geheimdienst ODIN. Da ich einmal darauf angesprochen wurde – damit keine rechte oder sonstige zwielichtige Gesinnung zum Ausdruck kommen. Der nordischen Mythologie nach opferte Göttervater Odin ein Auge, um aus dem Brunnen der Erkenntnis zu trinken; die Namenswahl ist daher auch ein Symbol dafür, zu welchen Opfern und Handlungen die Spezialisten des Dienstes bereit sind. Da NGE selbst tief in pseudo-judeo-christlicher Mystik gräbt, erschien es mir angemessen, meinerseits ein paar nicht alltägliche Begriffe einzuwerfen.

Die Handlung ist in mehrere Abschnitte unterteilt, der Prolog dient der Einführung der Charaktere, während der Hauptteil noch einmal grob entsprechend der Serienepisoden unterteilt ist. Dieses Schema breche ich eigentlich erst zum Ende auf.

Retelling a Story fällt in die Shinji-Rei-Sparte – nur als Warnung. Da draußen gibt es Unmengen an Shinji-Asuka-Stories, so dass ich hoffe, nun niemanden maßlos zu enttäuschen. Dennoch kommt auch Asuka nicht zu kurz – auch wenn ich ihr ziemlich übel mitspiele.
Gendo Ikari ist ein eiskalter Bastard mit ziemlich finsteren Plänen – wieso er vom Ur-Gendo der Serie abweicht, kann man aus verschiedenen, über den Text verteilten Schnipseln erfahren.
Eine sicher ins Auge fallende Veränderung ist der Handlungsbeginn im Frühjahr 2016 statt 2015. Nach einiger Überlegung habe ich die Abfolge der Ereignisse, die mit Shinjis Ankunft in Tokio-3 ihren Anfang nehmen, etwas nach hinten verlegt – die Ur-Fassung beginnt im Jahr 2015. Aufgrund der Handlung wurde mir aber klar, dass ich dabei doch Dinge wie z.B. das Neujahrsfest überspringe, bzw. erwähnen müsste, da es in Japan nicht ganz unbedeutend ist, die Geschichte aber keinen Ansatz bietet. Auch erschien es mir logischer, Shinjis Geburtstag ins Frühjahr zu legen – auch dies aus taktischen Gesichtspunkten. Im Ergebnis wird RaS das Geschehen des Jahres 2016 erzählen.
Der größte Unterschied zur Urfassung ist aber das Finale 2, ein alternatives Ende, auf dem möglicherweise sogar eine Fortsetzung aufbauen wird.

Ich wünsche viel Vergnügen mit der Geschichte und hoffe auf die eine oder andere Rückmeldung und Kritik. Natürlich ist mir klar, dass dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit nach immer noch irgendwo logische Schnitzer stecken müssen. Ich freue mich daher über Feedback und Kritiks über die Reviewfunktion.

Ulrich-A. Schmidt

Einleitung:

[unterlegt von der Titelmusik von ´Terminator II´]

Seifenblasen, zahllose Seifenblasen, große und kleine.

Jede dieser Blasen stellt eine Realität, eine mögliche Wirklichkeit, eine Version der Wahrheit dar.

Dies ist das Geheimnis der Kreuzwege...

Etwa 80% der Seifenblasen streben auf einen gemeinsamen Punkt zu, viele sind bereits dabei, sich gegenseitig zu durchdringen und als Ergebnis anzuwachsen. In diesen Realitäten hat ein Third Impact stattgefunden, in diesen Welten sind nur noch Shinji Ikari und Asuka Langley übriggeblieben. - Gut, es gibt auch eine Wirklichkeit, in welcher Toji Suzuhara von Rei-Lilith auserwählt wurde, die Zukunft zu gestalten, aber die fällt nicht weiter ins Gewicht.

In etwa weiteren 10% der möglichen Realitäten ist die Erde menschenleer, auf die eine oder andere Art und Weise haben ihre Einwohner es geschafft, sich noch vor der Jahrtausendwende selbst auszulöschen, oder ist es den Engeln gelungen, Lilith oder Adam zu erreichen, eventuell hat sich dort auch nie eine Menschheit entwickelt - in einer Handvoll Möglichkeiten sind die Dinosaurier nicht ausgestorben und haben sich zu beherrschenden intelligenten Spezies der Erde entwickelt oder wurde die Welt von den Affen übernommen.

Bei weiteren 5% der Wahrscheinlichkeiten hat es nie einen Second Impact gegeben.

In 2% der Realitäten wurde die Erde von Außerirdischen erobert, bzw. einfach überrannt.

Die übrigen 3% jedoch sind jene, in denen Gendo Ikaris Szenario gescheitert ist, in denen der Third Impact abgewendet wurde. Dies ist keine davon...

Prolog:

Der Second Impact hatte das Angesicht der Welt verändert.

Küstenlinien hatten sich verändert, als durch die geschmolzenen Wassermassen, die zuvor als Eis die Antarktis bedeckt hatten, der Meeresspiegel angehoben wurde. Ganze Inselgruppen versanken im Ozean, ganze Nationen wurden binnen eines Herzschlages ausgelöscht.

Die Erde selbst erbebte, als sich infolge der Explosion, welche sich im Südpol ereignet hatte, das Magnetfeld verschob.

Weltweit brachen aktive und längst inaktiv geglaubte Vulkane aus und schleuderten glut-flüssiges Gestein kilometerweit durch die Luft. Asche- und Funkenregen fielen auf die Städte und Dörfer der Menschen.

Stille Bäche schwollen zu reißenden Flüssen an und rissen mit sich, was sie zu fassen bekamen.

Stürme rasten über das Land, wirbelten fort, was sich in ihrem Weg befand.

Häuser stürzten ein, in die Schluchten der Großstädte fielen tödliche Regen aus feinen Glasscherben und Betontrümmern.

Gewaltige Feuer fraßen ganze Stadtviertel, ganze Städte verschwanden vom Angesicht der Welt.

Milliarden von Menschen fielen auf die Knie und beteten zu ihren Göttern.

Armageddon war gekommen...

Doch die Welt ging nicht unter, sie veränderte sich nur.

Die Erdachse hatte sich soweit verschoben, dass das Klima verrücktspielte, als die Natur sich

auf die Folgen des Second Impact einzustellen versuchte.

Vier verschiedene Jahreszeiten gab es nicht mehr, nur noch Sommer und Winter, fast ohne

Übergangszeiten.

An einem Tag starben mehr Tier- und Pflanzenarten aus, als während des ganzen zwanzigsten

Jahrhunderts. Und mit ihnen starben über drei Milliarden Menschen, begraben unter Asche und Lava, verschüttet in den Trümmern ihrer Häuser, ertrunken in den herantosenden, blutroten Wassermassen, fortgetragen und achtlos fallengelassen von rasenden Winden, erschlagen von fallenden Trümmerstücken.

Ihre Schreie hallten um die Welt, waren an manchen Orten noch Jahre später zu hören...

Für die Generationen, die vor dem Second Impact geboren waren worden, hatte sich die Welt in eine Hölle verwandelt.

Die Zeit nach dem Second Impact sah gewaltige Flüchtlingsströme, die sich aus unbewohnbar gewordenen Gebieten in erträglichere Regionen der Welt wälzten, sah Kriege um diese Regionen und die verbliebenen Rohstoffe, sah weiteres Sterben, sah mehrere Selbstmordwellen, die um den Globus zu rasen schienen, sah vormals fromme Menschen ihren Gott verfluchen...

Der Mensch hatte dies selbst über die Welt gebracht, als er Dinge antastete, für die er vielleicht noch nicht reif war.

Aber die Menschheit bestand fort, passte sich an, setzte eine neue Generation in diese Welt, begann mit dem Wiederaufbau...

Und irgendwo weinte ein Gott bittere Tränen um das Schicksal seiner Schöpfung...

Teil 1

往者
(Vergangenheit)

(oder: Wie die Bauern auf dem Feld platziert werden)

2000:

Niemand würde im Stande sein, über die Ereignisse an jenem verhängnisvollen Tag in der Antarktis zu berichten, die einzige Überlebende der Katsuragi-Expedition würde für Jahre in einen katatonischen Schockzustand verfallen und den Großteil ihrer Erinnerungen verdrängen...

Das Eisfeld nahe dem Südpol war zu einem Schlachtfeld geworden.

Das Experiment mit dem schlafenden Giganten war fehlgeschlagen, ein winziges Abweichen vom Plan hatte genügt, den schlafenden Engel ADAM zu erwecken.

Endlos lange Minuten hatten die Menschen der Expedition verharrt und zu dem Riesen empor geblickt, der sich so unvermittelt aufgesetzt und sich zu orientieren schien, nachdem sich die überdimensionierte Lanze aus seiner Brust gelöst hatte. Mit seiner Bewegung hatte er das Dach der Kuppelhalle aufgerissen, die sie über ihm errichtet hatten, um Schutz vor dem Wind und der antarktischen Kälte zu haben.
Ein Beben lief durch den Boden.
Panik erfasste die Menschen, fluchtartig strebten sie fort von der Ausgrabungsstelle, begannen zu rennen, als sich erste Spalten im Eis unter ihren Füßen zu bilden begannen und Teile der Deckenkonstruktion auf sie herabzuregnen begannen.
Der Titan richtete sich auf, sandte mit jeder Bewegung neue Wellen durch den Boden. Die Spalten im Boden wurden tiefer und tiefer, breiter und breiter. Dampfende Hitze begann aus ihnen aufzusteigen, gefolgte von flüssigem Gestein und kochender Lava.
ADAM breitete die Arme aus, wie jemand, der lange geschlafen hatte und nun die Durchblutung seiner Gliedmaßen wieder anregen musste.
Die Bebenwellen erreichten die Gebäude, die die Expedition aus Fertigbauteilen errichtet hatte. Kartenhäuser gleich fielen die Gebäude in sich zusammen, begruben, wer nicht rechtzeitig herauskam.
Die Risse zogen sich immer weiter, erreichten die Landebahn des kleinen Forschungspostens.

Die Wissenschaftler rannten winkend und schreiend auf das Transportflugzeug zu, das mit laufenden Motoren am Ende der Startbahn stand, spürten einen winzigen Moment Erleichterung, als sie erkannten, dass Professor Matsuo Katsuragi, der Expeditionsleiter, am Steuer der Maschine saß und ihnen hektisch zuwinkte, sich zu beeilen.

Doch mehr als dieser kurze, ungenügende Moment war ihnen nicht vergönnt gewesen...

Plötzlich wurde der polarsommerliche Himmel in grelles Licht getaucht. Und mit einem donnernden Laut fiel ein zweiter Riese vom Himmel, eine weiße, humanoide Gestalt mit rotglühenden Augen.

LILITH, der Zweite Engel, hatte die Erde erreicht...

ADAM wandte sich dem Neuankömmling zu, beugte den Oberkörper nach vorn wie ein Stier, der seinen Gegner erwartet. Um ihn, wie auch um den anderen Giganten, baute sich ein Feld knisternder Energie auf, welches bei Kontakt Eis und Schnee und den darunterliegenden Fels einfach zerschmolz, und blitzendes Wetterleuchten hervorrief.

Direkt vor den flüchtenden Menschen riss der Boden auf und entstand eine weitere Spalte.
Katsuragis Blick folgte der Spalte.
„Das schaffen sie nie", flüsterte er – und löste die Bremse.

Einer der Wissenschaftler hielt in seiner Flucht inne, wandte sich den Riesen mit einem Messgerät in den Händen zu, warf einen einzigen Blick auf die Anzeigen und ließ das Gerät fallen.

Ein anderer Mann rief ihm zu, er solle laufen, doch er schüttelte nur den Kopf. Flucht war sinnlos, zwischen den beiden Wesen bauten sich mächtige gegenpolige Kraftfelder auf, die bei Kontakt genügend Energie freisetzen würden, um die Erde zu zerreißen...

Eine Frau fiel schreiend auf die Knie und ein dritter Mann schüttelte in ohnmächtigem Zorn die Fäuste, als das Flugzeug, ihr einziger Ausweg aus dieser Hölle, über die Startbahn zu rollen begann, von seinem Piloten um die tiefen Spalten herumgesteuert wurde und schließlich abhob.

Und dann betrat mit einem zuckenden Lichtblitz ein dritter Riese das Feld, ein weitaus menschenähnlicheres Wesen in Purpur und Grün mit glühenden Augen. Es schien eine schwere Panzerung zu tragen und aus der Stirn ragte ein einzelnes Horn.

Auf den Unterarmschienen der Panzerung war ein Schriftzug zu lesen:

EVANGELION-01-TESTMODELL...

2003:

„Nach der Operation werden Sie wieder gehen können."
Die Frau neben Krankenbett ließ ihren Blick über das Häuflein Mensch wandern, diesen Klumpen Fleisch, der übriggeblieben war von ihrer Zielperson. Sie wusste, dass sie keinen Aufschub mehr bekam, ihr Patient lag eigentlich seit über einem Jahr im Sterben und langsam ging es zu Ende, langsam war da nichts mehr, was die Ärzte entfernen und amputieren konnten, um den Rest am Leben zu erhalten…

Der Gehirnwellenmonitor zeigte Ausschläge. – Der Patient reagierte auf ihre Worte! Es bestand also noch Hoffnung, dass das Experiment gelang.

„Die Prozedur ist Ihnen bekannt. Wir beginnen in Bälde."

Weitere Ausschläge. Der Herzmonitor zeigte erhöhte Werte. Trotz all der Schmerzmittel bewegte sich etwas in der Ruine, die einst das Gesicht des Patienten gewesen war, entrang seiner Kehle an dem Schlauch des Beatmungsgerätes ein dumpfer Laut.

Die Frau im weißen Kittel tat einen Schritt zurück.
Der Laut hatte beinahe wie ein „Nein!" geklungen…
Abrupt wandte sie sich ab.
„Wir sehen uns, wenn Sie wieder aufwachen. – Ich kann Ihnen Zeit verschaffen, aber Ihr Schicksal nicht komplett abwenden…"

*** NGE ***

Ein Schrei hallte durch den Flügel des Krankenhauses, welcher der Intensivmedizin vorbehalten war – langgezogen, kaum menschlich, mehr das Brüllen eines leidenden Tieres.

Im Krankenzimmer starrte der Patient auf seine Hand, bewegte die Finger aus Stahl und Plastik, ließ den Blick über das Handgelenk auf den Unterarm wandern, wo zwei metallene Knochen Elle und Speiche ersetzt hatten.
„Was… haben… Sie… getan…" brüllte er mit einer Stimme, die einem Computer entsprungen schien, grob moduliert und ohne Gefühl.
Er machte mit dem Arm eine Bewegung, als wollte er seine Umgebung hinfort wischen und den Moment beenden wie einen schlechten Traum. Aus seiner geballten Faust zuckten zwischen den Fingerknöcheln drei Stahlklingen hervor, welche einen Infusionsbeutel aufschlitzten; bläuliche Flüssigkeit ergoss sich auf den Boden und teilweise auf das Bett.

Die Wissenschaftlerin hielt den Mann im dunklen Anzug zurück, dessen Hand sich nervös in der Nähe seines Schulterhalters befand.
„Er muss sich erst an seinen neuen Zustand gewöhnen."
Sie warf einen letzten Blick auf ihr Werk, auf die nun wieder vollständige Gestalt aus Fleisch, Blut und Stahl, welche sie aus rotglühenden Kameraaugen anstarrte. Dann drehte sie sich ihrem, auf einem Tischchen stehenden Laptop zu, tippte rasch eine kurze Nachricht und versandte die E-Mail.
An: Ikari, Gendo
Von: Akagi, Naoko
Das PROPHET-Interface funktioniert.
Bin bald zurück.
Naoko

Der neben der Wissenschaftlerin stehende, dritte im Raum schien länger nach Worten gesucht zu haben angesichts des Anblickes. Wie um Zeit zu gewinnen, strich er beiläufig die Jacke seiner Generalsuniform glatt, ehe er ansetzte:
„Willkommen zurück unter den Lebenden, Commander."

2005:

Mit leerem Blick saß der Junge auf der Schaukel und starrte dem dunklen Wagen hinterher, der in der Ferne verschwand, den Wagen, in dem sein Vater saß, welcher gerade einen seiner seltenen - und in Zukunft immer seltener werdenden - Besuche bei ihm beendet hatte..

Langsam schwang er vor und zurück, die Kette quietschte jedes Mal vernehmlich.

Sein Name war Shinji Ikari, er war fünf Jahre alt. Und vor etwas über einem halben Jahr hatte er mit ansehen müssen, wie seine Mutter bei einem Experiment die Steuerkapsel eines Mechas bestiegen hatte, ohne diese jemals wieder zu verlassen. Ihr Schrei hatte ihm noch tagelang in den Ohren gehallt…

An diesem einen Tag hatte er seine Mutter verloren - und kurz darauf seinen Vater, der ihn mit den Worten, er könne ihn nicht gebrauchen, bei Pflegeeltern zurückließ...

Shinji fühlte sich allein, furchtbar allein. Er begriff nicht, was mit seiner Mutter geschehen war. Er verstand nicht, weshalb sein Vater ihn im Stich gelassen hatte. Er wusste nicht, warum sein Vater sich ihm gegenüber derart kalt und abweisend verhielt...

*** NGE ***

Neben drei großen Metallwürfeln lag die verdrehte und gebrochene Gestalt einer rothaarigen Frau in einem Wissenschaftlerkittel in einer langsam größer werdenden Blutlache.
Ein Schatten fiel auf die Tote, eine Schuhspitze stieß ihr in die Seite.
Nach kurzem Zögern wandte sich die andere Gestalt wieder ab.

*** NGE ***

Das Mädchen in dem Glaszylinder beobachtete mit wachem Blick die Aufzeichnung, welche einer der Bildschirme zeigte. Dabei sah es über die Schulter eines dunkelhaarigen bärtigen Mannes, welcher trotz der herrschenden Lichtverhältnisse eine dunkle Brille trug.

Der Name des Mädchens lautete Rei Ayanami. Äußerlich schien sie etwa fünf Jahre alt zu sein, tatsächlich jedoch betrug ihr Alter kein halbes Jahr. Und dabei war sie bereits die zweite Rei, welche den großen Klontank in den Eingeweiden des TerminalDogmas in der Geofront verlassen hatte, der zweite Körper von Hunderten mit blasser Haut, blauen Haaren und roten Augen...

Es würde noch einige Wochen dauern, bis sie den mit LCL-Flüssigkeit gefüllten Glaszylinder verlassen konnte, bis das genetische Verbesserungsprogramm abgeschlossen war, welches diesen Körper von seinem Vorgänger unterscheiden sollte.

Dunkel erinnerte sie sich an das Schicksal, welches die erste Rei erlitten hatte, die Bilder waren nur verschwommen - und doch nur allzu real und... beängstigend… In ihrer Erinnerung spürte sie, wie sich zwei Hände um ihre Kehle legten und langsam zudrückten, bis sie endlich wohlige Bewusstlosigkeit und Finsternis umfingen. Jedes Mal, wenn die Erinnerungen in ihr aufstiegen, schnelle ihr Puls in die Höhe, schien ihr Herz in der Brust explodieren zu wollen. Zu Anfang hatte ihr Schöpfer noch mit einer Besorgnis reagiert, doch mit jedem Tag bekam Rei ihre Reaktionen besser in den Griff, verdrängte die Erinnerungen ihr Vorgängerin und verkapselte sie immer mehr. Entsprechend schwächer fiel die Reaktion ihres Körpers auf ihr letztes Ableben aus. Obwohl sie sich anstrengte, die unheimlichen Bilder zu verdrängen, war ihr langweilig, furchtbar langweilig.

Längst hatte sie die Kunst gemeistert, ihre Umgebung bis ins kleinste Detail wahrnehmen zu können, ohne sich irgendetwas anmerken zu lassen.

Die einzige Abwechslung in der ewigen Monotonie war der Kommandant, der sie wenigstens einmal am Tag besuchte, selbst wenn er sie die meiste Zeit ignorierte und an seinen Projekten arbeitete. Rei fragte sich, ob dies die normale Art war, in welcher Menschen miteinander interagierten.

Der Bildschirm zeigte den Kommandanten, den bärtigen Mann, der sich nun die Aufzeichnung ansah, sowie einen dunkelhaarigen Jungen. Die beiden wechselten nur wenige Worte, verhielten sich wie Fremde. - Dabei waren sie Vater und Sohn.

Ihr Verhalten war ein weiterer Baustein in Rei Ayanamis Theorie zur zwischenmenschlichen Interaktion.

Der Kommandant hielt die Aufzeichnung an, das Standbild zeigte das Gesicht seines Sohnes.

Gendo Ikari seufzte leise, dann stand er auf und verließ für einen Moment das Labor.

Während seiner Abwesenheit blickte Rei wie gebannt in das Gesicht auf dem Bildschirm, das Gesicht Shinji Ikaris. Und sie fragte sich, weshalb der Sohn des Kommandanten nicht bei seinem Vater war, vielleicht hätte sie in ihm sogar einen guten Spielgefährten gefunden...
In ihren Gedanken begann sie damit, mit ihrem Namen und dem des Jungen zu spielen, fragte sich, wie es klingen würde, wenn man nach ihnen beiden rief…
Rei…
Shinji…
Shinji…
Rei…
Zwei Namen… wie seltsam es ihr doch vorkam. In ihrer Wunschvorstellung war sie nicht allein. Sie wusste nicht, wer sie und den Jungen rief, sie wusste nicht, wo es geschah und was sie gerade machten, doch vor ihrem geistigen Auge eilte sie Seite an Seite mit Shinji Ikari auf den Rufer zu. Und das Wichtigste daran war, dass sie nicht allein war…
Shinji…
Shinji…
Shinji Ayanami…
Shinji Ikari…
Rei Ikari…
Nein…
Sie rief sich zur Ordnung, brachte ihre Gedanken unter Kontrolle, ehe sie zu weit in die Phantasiewelt abgleiten konnten.
Rei Ayanami…
Sie war allein. Es gab nur sie und ihren Schöpfer…
Dennoch – die Aufzeichnungen waren eine bessere Erinnerung als die an das Gefühl zweier Hände, die sich um ihren Hals legten…

2006:

Mit unbewegter Miene blickte das rothaarige Mädchen auf das frische Grab.

Es fühlte nur Wut und Enttäuschung.

Es hieß Asuka Soryu Langley und das Grab, vor dem es stand, war das Grab seiner Mutter.

Asuka fühlte sich alleingelassen.

Ihr Vater rief ihren Namen, doch sie reagierte nicht, auch nicht, als er sie erneut rief.

Vor einem guten halben Jahr hatte ihre Mutter einen schweren Nervenzusammenbruch erlitten. Danach war es nur noch abwärts gegangen, jeden Tag war Kyoko Soryu mehr in den Wahnsinn abgerutscht, bis sie sich schließlich vor einer knappen Woche das Leben genommen hatte. Und Asuka hatte sie gefunden...

Wieder rief ihr Vater sie, wieder ignorierte sie ihn, sie wünschte sich, er würde ohne sie fahren, würde sie in Ruhe lassen. Sie brauchte ihn nicht, schließlich war er nicht dagewesen, als ihre Mutter und sie ihn gebraucht hatten, hatte stattdessen die Krankheit ihrer Mutter als Grund für die Scheidung angegeben, um für seine Geliebte frei zu sein, welche selbst jetzt im Wagen saß. Sie spürte heiße Wut in sich aufsteigen, wollte sich umdrehen und ihren Vater anbrüllen, er solle verschwinden. Doch sie konnte nicht sprechen, ihr Hals war wie zugeschnürt, während ihre Augen feucht wurden. Trotzdem drehte sie sich um, als sie hörte, wie ein Automotor angelassen wurde.

Sie blinzelte, sah, wie der Wagen ihres Vaters langsam vom Parkplatz rollte, erwiderte den traurigen Blick ihres Vaters mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck.

Er ließ sie tatsächlich allein...

Sie ließ ihren Tränen freien Lauf.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter.

Asuka blickte auf, sah in das Gesicht ihrer Patentante.

„Tante Ann..."

Die dunkelblonde Frau nahm sie schweigend in den Arm, ignorierte die schwache Gegenwehr des Mädchens.

Neben der Frau stand ein hochgewachsener schwarzhaariger Mann, dessen Augen seltsam leblos wirkten.

„Dein Vater war damit einverstanden, dass du fürs erste bei uns bleibst, Asuka", flüsterte er mit merkwürdig emotionsloser Stimme.

Das rothaarige Mädchen nickte nur und ergriff die ausgestreckte Hand. Der Ärmel seines Kleides rutschte etwas zurück und enthüllte einen frischen Verband am Handgelenk.

Teil 2

今更
(Gegenwart)

Angriff der Engel
(Angel Attack / The Beast)

Cruel Angel's Thesis
Zankoku na tenshi no you ni
Shonen yo, shinwa ni nare...

Aoi kaze ga ima mune no doa wo tataitemo,
Watashi dake wo tada mitsumete
Hohoenderu Anata
Sotto Fureru mono
Motomeru koto ni muchuu de,
Unmei sae mada shiranai itaikena hitom

Dakedo itsuka kizuku deshou
Sono senaka ni wa
Haruka mirai mezasu tame no
Hane ga aru koto...

Zankoku na tenshi no te-ze
Madobe kara yagate tobitatsu
Hotobashiru atsui patosu de
Omoide wo uragiru nara
O-zora wo daite kagayaku
Shonen yo, shinwa ni nare

Zutto nemutteru watashi no ai no yurikago
Anata dake ga yume no shisha ni
Yobareru asa ga kuru
Hosoi kubisuji wo tsukiakari ga utsushiteru
Sekai-ju- no toki wo tomete
Tojikometai kedo...

Moshi mo futari aeta koto ni imi ga aru nara,
Watashi wa, sou, jiyu- wo shiru
Tame no Baiburu

Zankoku na tenshi no te-ze
Kanashimi ga soshite hajimaru
Dakishimeta inochi no katachi
Sono yume ni mezameta toki
Dare yori mo hikari wo hanatsu
Shonen yo, shinwa ni nare

Hito wa ai wo tsumugi nagara rekishi wo tsukuru
Megami nante narenai mama
Watashi wa ikiru...

Zankoku na tenshi no te-ze
Madobe kara yagate tobitatsu
Hotobashiru atsui patosu de
Omoide wo uragiru nara
O-zora wo daite kagayaku
Shonen yo, shinwa ni nare

Kapitel 01 – 2016, Frühjahr: Ankunft in Tokio-3

Komm. Gendo."

- Nur zwei Worte...

Nur neun Buchstaben...

Mehr enthielt der Brief von seinem Vater, das erste Lebenszeichen seit über einem Jahr, nicht.

Nur zwei Worte...

Shinjis Hände begannen zu zittern, während seine Augen wieder und wieder über das Papier huschten, vergeblich nach weiteren Worten suchten. Nervös wendete er das Papier in seinen Händen.

Dann blickte er auf, sah die beiden älteren Leute an, die sich in den letzten zehn Jahren um ihn gekümmert hatten, seine Pflegeeltern, entfernte Verwandte seiner verstorbenen Mutter. - Allein der Gedanke an seine Mutter versetzte ihm immer noch einen Stich mitten ins Herz.

In den Gesichtern seiner Pflegeeltern stand Erwartung zu lesen... und Hoffnung...

Shinji wurde klar, dass sie den Inhalt des Briefes von seinem Vater kannten... und dass sie hofften, er würde seinem Ruf folgen... Sie wollten ihn loswerden...

Er presste die Lippen zusammen, zerknüllte das Blatt Papier in der Hand, drehte sich um und rannte aus dem Haus...

*** NGE ***

Zwei Tage später:

Shinji Ikari stand auf Bahnsteig Nummer 4 vom Hauptbahnhof in Tokio-3 in der warmen Frühlingssonne: Durchschnittliche Größe, etwas schmal im Schulterbereich und nicht wirklich kräftig gebaut, dunkelbraunes Haar, braune Augen, das Kinn vielleicht etwas kantig, aber in keiner Weise herausragend oder augenfällig – ein vollkommen normaler vierzehnjähriger Junge, gekleidet in eine schwarze Hose und ein weißes Hemd, dazu weiße Turnschuhe mit ausgeblichenen blauen Streifen. Über der Schulter trug er einen Rucksack und neben ihm stand ein schwarzer Koffer.

Vor fünfzehn Minuten war der Zug, mit dem er gekommen war, abgefahren. Der Bahnsteig war mittlerweile bis auf ihn menschenleer. Aus den Lautsprechern kamen in ständiger Wiederholung dieselben Durchsagen: Aufgrund eines Notfalles würden keine Züge fahren, Zivilisten sollten sich in die Schutzräume zurückziehen…

Shinji sah sich um. Was für ein Notfall? Und wo waren diese Schutzräume? Das Ganze war ihm alles andere als geheuer. Hätte jetzt ein Zug auf dem Gleis gehalten, hätte er wahrscheinlich sehr mit sich gerungen, nicht einfach wieder aus dieser Geisterstadt zu verschwinden, egal wie sehr es ihn drängte, seinen Vater nach all der Zeit wiederzusehen, egal wie sehr er darauf hoffte, von diesem empfangen zu werden, wie ein Vater einen Sohn begrüßte...
Mit steifen Schritten ging er zum nächsten Fernsprecher, hob den Telefonhörer ab. Noch ehe er Münzen in den Schlitz werfen und die Nummer seiner Pflegeeltern wählen konnte, hörte er die Bandansage aus dem Hörer dringen: Wegen eines Notfalles sei es derzeit nicht möglich das Telefonnetz zu benutzen, man bitte um Verständnis.
Verständnis… er schluckte… wenn man ihm denn wenigstens gesagt hätte, was los war.
Und die Stille – er hörte keine Vögel, keine Insekten, nur den Wind.

Nachdem er sich zum wiederholten Mal umgesehen hatte, holte er den zerknitterten Umschlag aus der Tasche hervor, dessen Eintreffen vor zwei Tagen sein Leben völlig aus der Bahn geworfen hatte, zog den Inhalt heraus. Die zerknüllte und eingerissene Nachricht seines Vaters stopfte er achtlos zurück in den Umschlag, ebenso das entwertete Zugticket, besah sich stattdessen das Foto, welches sich ebenfalls in dem Umschlag befunden hatte. Es zeigte eine junge, recht gutaussehende - jedenfalls nach den Maßstäben eines pubertierenden vierzehnjährigen Jungen - Frau mit purpurnen Haar. Sie trug Shorts und eine ärmellose tiefausgeschnittene Bluse, aufgrund ihrer vorgebeugten Körperhaltung war der Ansatz ihres Busens zu erkennen, was noch durch einen Pfeil mit den Worten: ´Sieh dir das an!´ untermalt wurde. Um den Hals trug sie ein silbernes Kreuz.

Kurz zuckten Shinjis Mundwinkel. Dann drehte er das Foto um, las die Nachricht auf der Rückseite: ´Anbei die Zugfahrkarte. Hole dich vom Bahnhof ab. Misato Katsuragi.´

Natürlich kannte er die Worte inzwischen auswendig, während der mehrstündigen Zugfahrt hatte er sie immer wieder gelesen und sich darüber Gedanken gemacht, wer diese Misato Katsuragi war und in welchem Verhältnis sie zu seinem Vater stand. Das letzte, was er wollte, war zu erfahren, dass sein Vater vielleicht eine neue Frau oder Lebensgefährtin hatte, dass er das Andenken an seine Mutter beschmutzen könnte...

In der Ferne donnerte es.
Shinji blickte zum wolkenlosen Himmel empor. Nein, ein Gewitter war das nicht.
Das Donnern wurde lauter, kam näher. Zugleich schien der Boden leicht zu beben. – Ein Erdbeben? Wurde die Region gerade von einem Beben erschüttert? War deshalb niemand zu sehen, waren deshalb alle in den Schutzräumen? – Dann musste er hier weg und irgendwohin, wo ihm nichts auf den Kopf fallen oder ein Gebäude über ihm einstürzen konnte!

Dann flog eine Staffel Kampfflugzeuge über ihn hinweg. Automatisch folgte er ihnen mit den Augen. Und selbige weiteten sich bis zum Anschlag, als er sah, dass die Kampfflieger Raketen auf einen schwarzen Riesen abfeuerten, der gerade hinter den Hügeln in der Ferne aufgetaucht war.

„Was...?" flüsterte Shinji. – Kein Erdbeben, sondern etwas völlig anderes…

Der Anblick eines riesigen Urzeit-Dinosauriers hätte ihn möglicherweise nicht derart überrascht, wie das Erscheinen dieses dunklen, menschenähnlichen Wesens, selbst auf die Entfernung hin konnte er erkennen, dass das Wesen lange affenartige Arme und keinen Kopf hatte, dafür befand sich ein vogelartiges Gesicht mit langem Schnabel mitten auf der Brust.

Ein schwaches Flimmern umgab den Giganten.

Im nächsten Moment explodierten mehrere der Flugzeuge in der Luft. Zugleich erschien ein gutes Dutzend Panzer in Shinjis Sichtfeld und schoss eine weitere Fliegerstaffel heran.

Der Junge stand nur da und starrte. Dann setzte der Fluchtreflex ein. Er warf sich herum - und sah das Mädchen...

Es stand nur da, ein Mädchen in seinem Alter. Es hatte hellblaues Haar und blasse Haut, seine Augen schienen einen gewissen Rotschimmer zu haben, es trug eine Schuluniform aus weißer Bluse und dunkelblauer Jacke und Rock, dazu schwarze Socken und weiße Schuhe. Das Mädchen schien ihn direkt anzusehen. Und in seinen Augen lag so etwas wie Wiedererkennen

Shinji erstarrte in der Bewegung. Irgendetwas an dem Mädchen schien ihm seltsam vertraut. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, um der anderen zuzurufen, was dort in der Ferne vor sich ging, sie zu fragen, wo die Schutzräume sind...

Ein Schwarm von Tauben flog durch sein Blickfeld, verbarg einen Sekundenbruchteil lang das Mädchen vor seinen Augen. Als die Vögel wieder verschwunden waren, war auch das Mädchen fort.

Shinji blinzelte, sah sich rasch um, ohne das Mädchen wiederzufinden. War er einer Einbildung zum Opfer gefallen?

Dafür konnte er erkennen, dass der Riese sich langsam der Stadt näherte, dabei weitere Kampfflieger zum Absturz oder zur Explosion brachte, Panzer- und Geschützstellungen einfach zerstampfte.

Mit quietschenden Reifen kam ein blauer Sportwagen neben dem Bahnsteig zum Stehen.

Die Fahrerin nahm ihre Sonnenbrille ab.

„Shinji Ikari - das bist du doch, oder?"

Der Junge drehte sich um, sah sie an.

Es war dieselbe Frau wie auf dem Foto, nur trug sie jetzt eine rote Jacke und ein schwarzes Barett, während der enge Rock auf Kniehöhe endete.

„J-ja." stammelte er. „Das bin ich."

Sie blickte an ihm vorbei zu dem Riesen in der Ferne.

„Schnell, spring rein, wir haben nicht viel Zeit!"

„Ich... ah..."

„Los!"

Im nächsten Moment hatte er seinen Koffer schon auf die Rückbank geworfen und saß auf dem Beifahrersitz. Noch bevor er den Gurt angelegt hatte, gab die Fahrerin bereits Gas und raste los. Glücklicherweise war die Straße nicht nur menschenleer, sondern auch frei von Fahrzeugen. Inzwischen bemerkte Shinji die Alarmsirenen, die laut heulten, fragte sich, weshalb sie ihm nicht vorher aufgefallen waren.

„Misato Katsuragi... Lieutenant-Colonel Misato Katsuragi." fand die Frau endlich Zeit, sich vorzustellen.

„Ahm... sind Sie bei der Armee?"

„UN-Friedenstruppen. Ich arbeite für NERV..."

Dieser Begriff sagte ihm etwas, wenn auch nur wenig. Er wusste, dass sein Vater damit in Verbindung stand. Im nächsten Moment bestätigte sie seine Überlegungen.

„... für deinen Vater."

„Vater... so..."

Er fühlte Bitterkeit in sich aufsteigen... sein Vater schickte seine Lakaien… - Und Übelkeit, denn Misato Katsuragi fuhr wie ein Henker...

Immer wieder warf er einen Blick zurück über die Schulter. Und jedes Mal musste er feststellen, dass der schwarze Riese nähergekommen war.

„Was ist das?"

„Der Feind." antwortete die Frau mit zusammengebissenen Zähnen. Ihre ganze Aufmerksamkeit war der Straße gewidmet, die zahlreiche Schlaglöcher und Dellen aufwies; hätte Shinji Gelegenheit gehabt, diese näher in Augenschein zu nehmen, wäre er möglicherweise zu der Erkenntnis gelangt, dass auf dieser Straße zumindest ein Teil der Panzerfahrzeuge, die er zuvor gesehen hatte, gegen den Riesen ausgerückt war.

„Er kommt näher!"

„Er will zum Hauptquartier."

Sie fuhr eine scharfe Kurve, die ihn fast aus dem Wagen schleuderte.

„Ah..."

Wieder riss er die Augen auf - eine zweite riesenhafte Gestalt erschien zwischen den Hügeln am Stadtrand, menschenähnlicher als die andere, ein Gigant in Weiß und Orange mit nur einem großen Auge auf der Stirn.

„Da... da ist noch einer!"

Katsuragi blickte nicht hinüber, sah nur auf die Straße vor ihnen, auf welcher jetzt zahlreiche verlassene Pkws standen, fuhr Slaloms um die Wagen herum.

„Der gehört zu uns. – Auch wenn er eigentlich noch nicht wieder einsatzbereit ist…"

„Ah... Ist das ein Roboter?" war alles, was Shinji zustande brachte.

Der einäugige Riese näherte sich dem anderen mit hoher Geschwindigkeit, holte dabei zum Schlag mit einem entsprechend proportionierten Messer aus. Der andere bemerkte den Angriff, trat zur Seite, fing den Angriff ab, schleuderte seinen Angriff lässig zur Seite.

Der weiß-orange Zyklop landete auf allen vieren, kam schwankend wieder hoch, griff erneut an, wurde wieder abgeblockt. Der schwarze Riese landete mehrere Schläge in der Leibesmitte seines Kontrahenten, jeder Schlag wurde von einer grellen Lichtexplosion begleitet.

„Ein EVANGELION..." Jetzt sah auch Misato Katsuragi zu den Kämpfenden hinüber, der einäugige Riese war klar im Nachteil, steckte nur noch ein, flog in diesem Augenblick nach einem gewaltigen Schwinger rückwärts in einen Hügel hinein, wo er einen Ganzkörperabdruck in der Topographie hinterließ.

„Mein Gott... Rei..." flüsterte Misato.

„W-Was?"

Der orange-weiße Riese rappelte sich wieder auf, bewegte sich dabei wie ein Betrunkener, führte fahrige Schläge in die Luft, welche weit, sehr weit, danebengingen. Mit einem fast lässigen Schlag mit der flachen Hand gegen den Kopf schleuderte der dunkle Gigant ihn wieder zurück.

„Er macht sie fertig... holt sie doch endlich zurück..." stieß Katsuragi hervor.

In diesem Moment schossen erneut Kampfflugzeuge heran und nahmen den schwarzen Riesen mit dem Vogelgesicht unter Beschuss, gaben seinem besiegten Gegner Gelegenheit, sich zurückzuziehen. Torkelnd verschwand der Gigant in Weiß und Orange zwischen den Hügeln.

Der schwarze Riese beachtete die Flugzeuge nicht, die ihn wie Insekten umschwirrten, sondern setzte seinen Weg in der ursprünglichen Richtung - auf die Stadt zu - fort.

„Was ist das für ein Ding?" rief Shinji panisch.

„Ein Engel... so nennen wir sie jedenfalls… man kann ihm mit konventionellen Mitteln nichts anhaben... die Küstenverteidigungslinien der UN sind bereits durchbrochen - halt dich fest!"

Wieder trat sie das Gaspedal bis zum Anschlag durch.

Raketen schossen über ihnen durch die Luft, explodierten kurz, bevor sie den Giganten trafen, so als umgebe ihn eine unsichtbare Schutzschicht. Eine vom Kurs abgekommene Rakete traf eines der Gebäude in der Nähe, in der nächsten Sekunde raste Misato durch einen Trümmerhagel. Immer wieder warf sie jetzt einen nervösen Blick nach oben.

Dann sah sie, wonach sie Ausschau gehalten hatte.

„Sie wagen es tatsächlich... Runter, Shinji!"

Noch während sie in die Bremsen stieg, warf sie sich zur Seite und über den Jungen.

Der Wagen war noch nicht ganz zum Stehen gekommen, da ging die Welt in einem grellen Blitz, dem ein dumpfes Grollen und ein leichtes Beben folgten, unter...

*** NGE ***

Es war noch nicht zu Ende, dies stellte Shinji jedenfalls fest, als er die Augen wieder öffnete.

Der Sportwagen lag auf dem Dach, Misato Katsuragi kroch gerade durch das Fenster ins Freie.

Shinji tat es ihr nach, nachdem er sich aus dem Gurt befreit hatte.

„Mein schöner Wagen!" Misato schien den Tränen nah. „Mein Baby! Mein armer Liebling! Dabei ist er noch ganz neu!"

Shinji blickte wieder in die Richtung hinüber, in welcher der Riese sich befunden hatte.

Er war noch da! Allerdings bewegte er sich nicht mehr, sondern stand nur da, steif wie eine Statue.

„Er... ah... er rührt sich nicht mehr!"

Misato blickte erst ihn an, dann zu dem Riesen hinüber, nahm langsam die Sonnenbrille ab.

„Sie haben es tatsächlich getan..."

Der Riese stand mitten in einem großen Krater, in welchem sich auch der Stadtrand befunden hatte. Die Erde um ihn herum war verbrannt, von den Gebäuden am Stadtrand, die sich im Radius der von den Streitkräften eingesetzten Waffe befunden hatten, standen nur noch die Grundmauern. Auch weiter in die Stadt hinein hatten die Gebäude Schaden genommen.

„... sie haben tatsächlich eine N2-Bombe eingesetzt... minimale Sprengkraft, sonst wäre von uns nichts mehr übrig… Verdammt, ich müsste jetzt in der Kommandozentrale sein..."

„Ist er... ist der Engel..."

„Tot? - Nein, nur vorläufig aufgehalten, aber der erholt sich wieder. Die Biester verfügen angeblich über unglaubliche Regenerationsfähigkeiten. Wir sollten sehen, dass wir ins Hauptquartier kommen."

Sie besah sich den Wagen.

„Komm, fass mit an, den kriegen wir wieder hin."

„Uhm... ja, Misato-san."

Tatsächlich gelang es ihnen, den Wagen erst auf die Seite und dann auf die Räder zu drehen, er war aufgrund seiner windschnittigen Bauweise vergleichsweise leicht. Die Windschutzscheibe war gesplittert, die Seite eingebeult und der Seitenspiegel abgerissen.

Mit missmutigem Gesicht begutachtete Misato den Schaden, schlug kräftig auf die verbeulte Motorhaube, um sie unten zu halten, woraufhin sich die Stoßstange scheppernd löste und sie nur mit Mühe einen Wutschrei unterdrückte.

„Uhm, Misato-san..." melde sich Shinji aus dem Wageninneren.

„Ja?"

„Hier piept etwas."

„Was?"

Sie lief um den Wagen herum und schwang sich ins Innere.

„Mein Handy..."

Der Verschluss des Handschuhfaches klemmte, was sie mit einem Faustschlag behob. Zusammen mit dem Handy ergoss sich eine wahre Flut aus Zetteln, Nagellackfläschchen, Lippenstiften, einer leeren Bierdose und diversem anderen Zeug über Shinji.

Misato schnappte sich das immer noch piepende Handy.

„Ja? - Ja, wir sind noch unterwegs. Ich brauche einen Car-Train an Eingang 4. - Ja, bis gleich."

Sie unterbrach die Verbindung und warf das Handy in den Fußraum zu dem anderen Zeug.

„Und los geht´s!"

Beim dritten Versuch sprang der Motor an, es klapperte und schepperte an verschiedenen Stellen des Wagens, als Misato anfuhr.

„Ah, schaffen wir es denn überhaupt?"

„Ja, sicher, der nächste Eingang ist ganz in der Nähe."

Sie steuerte den Wagen in einen Tunnel in eine Bahnstation, wo bereits ein Zug auf sie wartete, danach ging es auf dem Autozug weiter, der Tunnel führte abwärts.

Und als sie den Tunnel wieder verließen, stand Shinjis Mund vor Überraschung offen...

Vor ihnen erstreckte sich eine gewaltige Höhle, ein kuppelförmiger Hohlraum unter der Erde, einer eigenen kleinen Welt mit eigenem Himmel und Horizont nicht unähnlich. Durch verschiedene Schächte fiel von der Oberfläche Licht in den Hohlraum. Von der Decke hingen zahlreiche Gebäude – quaderförmige Hochhäuser…

Shinjis Blick richtete sich von der Decke auf den Boden des riesigen Hohlraumes. Im Zentrum der Höhle erhob sich eine obsidianschwarze Pyramide, vor welcher der Schienenstrang im Boden verschwand.

„Das... das ist die Geofront..." stieß er aufgeregt hervor.

Natürlich hatte er bereits von diesem Ort gehört, über welchem die Stadt Tokio-3 errichtet worden war, so seltsam es in einer von Erdbeben erschütterten Region wie Japan war, es handelte sich um einen natürlichen Hohlraum von mehreren Kilometern Durchmesser.

„Ja, die letzte Schutzburg der Menschen, unsere Festung gegen die Engel. Von hier aus beginnt der Wiederaufbau - wenn es uns gelingt, die Engel aufzuhalten." Sie griff unter den Sitz. „Hier, dein Besucherausweis – verlier ihn nicht, ja? – Und das hier…"
Damit drückte sie ihm eine dünne Broschüre in die Hand, dann der mit einer Büroklammer ein Ausweis befestigt war.

„Ahm… ‚Willkommen bei NERV'", las er den Titel des Bändchens.

„Hab ich bekommen, als ich hier angefangen habe. Viele bunte Bilder."

Wieder verschwand der Zug unter der Erde, nur um kurz darauf in einen Endbahnhof einzufahren.

„Endstation." erklärte Misato und stieg aus, warf ihrem Wagen einen letzten traurigen Blick zu, ehe sie sich dem Ausgang zuwandte. „Komm mit, dein Vater wartet sicher schon."

Es ging durch scheinbar endlose Gänge und Flure, über lange Rolltreppen und dann wieder durch ein Labyrinth von Gängen.

„Seltsam", murmelte Misato. „Eigentlich..."

„Haben Sie sich verlaufen, Lieutenant-Colonel Katsuragi?" erklang eine Frauenstimme hinter ihnen.

Misato drehte sich um, vor den offenstehenden Türen einer Aufzugskabine stand eine Frau ihres Alters mit wasserstoffblondem Haar, sie trug einen knielangen Rock und etwas, das wie das Oberteil eines Taucheranzuges wirkte, unter einem langen Laborkittel.

„Ah, Ritsuko, du kommst wie gerufen!"

„Der Kommandant wartet bereits auf dich und den Jungen - das ist er doch, der dritte Kandidat, oder?"

„Ja, Ritsuko, das ist Shinji Ikari. - Shinji, Doktor Ritsuko Akagi, unsere Chefwissenschaftlerin."

„Dritter Kandidat?" fragte Shinji.

„Der Kommandant wird es dir erklären." wich Misato ihm aus.

Sie traten in den Aufzug.

*** NGE ***

Rei Ayanami sah nur verschwommen.

Alles war Schmerz...

Die Leuchtkörper unter der Decke jagten dahin, schienen zu einem einzigen zu verschmelzen.

Dumpf erinnerte sie sich, dass sie sich auf einer Trage befand.

Undeutlich drangen die Stimmen der Sanitäter und Ärzte an ihr Ohr, welche die Trage schoben, oder neben ihr herliefen.

„Vermutlich Milzriss." - „Mehrfach gebrochener Arm." - „Gehirnerschütterung." - „Hoher Blutverlust..."

Jemand drückte ihr eine Sauerstoffmaske auf das zerschrammte Gesicht.

Das Atmen fiel ihr etwas leichter, schmerzte aber immer noch.

„Verdacht auf mehrere gebrochene Rippen." - „Die Kleine hat nur knapp überlebt." – „Selbst bei ihrer Konstitution wird es Wochen dauern, bis…"

Die Trage rumpelte über eine Türschwelle, der eigentlich schwache Ruck schickte eine Welle von Schmerz durch ihren Körper.

„OP ist bereit!" - „Blutkonserven..."

Abrupt wurde die Trage gestoppt.

Rei Ayanami stöhnte unterdrückt vor Schmerz auf.

„Pilotin Ayanami kann noch nicht in den OP gebracht werden." erklärte die Stimme eines älteren Mannes. „Sie muss möglicherweise noch einmal in den Einsatz."

„Sir, das..." setzte einer der Ärzte an. „Das ist unverantwortlich - sie hätte gar nicht erst aus ihrem Krankenbett geholt werden dürfen!"

Das Gesicht eines grauhaarigen Mannes schob sich in Reis Blickfeld.

„Rei, das Third Child ist eingetroffen, aber der Kommandant ist nicht sicher, ob es auch bereit ist. Du musst vielleicht noch einmal raus, verstehst du?"

Sie hob langsam den Arm, der weniger schmerzte, entfernte die Sauerstoffmaske. Sofort glaubte sie wieder, flüssiges Feuer zu atmen.

„Ja, Subkommandant... ich… verstehe..."

„Es tut mir leid, Rei."

„... ist... meine... Pflicht..."

Der ältere Mann nickte, wandte sich dann wieder den Medizinern zu.

„Geben Sie ihr etwas gegen die Schmerzen. Aber sie darf nicht einschlafen."

„Ja, Subkommandant Fuyutsuki." murmelte einer der Umstehenden. Die Art, wie er den Namen des Mannes betonte, wirkte, als meinte er in Wirklichkeit den Leibhaftigen...

*** NGE ***

Mit wuchtigen Schlägen und Tritten bearbeitete Asuka Soryu Langley den Sandsack vor ihr.

Das rothaarige Mädchen trug einen Trainingsanzug und Kickbox-Handschuhe und -Fußbekleidung, der Anzug wies an Nacken und Achseln große Schweißflecken auf, ihr ebenfalls verschwitztes Haar wurde von einem Stirnband zurückgehalten.

Jeder ihrer Schläge war Ausdruck der Wut, die in ihr steckte und aus ihren blauen Augen zu funkeln schien.

Heute war der Todestag ihrer Mutter, sie war gerade vom Besuch am Grab Kyoko Soryus zurückgekehrt, den sie in Begleitung ihres Vaters gemacht hatte, so wie er darauf bestanden hatte. Und natürlich war seine zweite Frau dabei gewesen, die es glücklicherweise längst aufgegeben hatte, von Asuka ´Mutter´ genannt werden zu wollen.

Jetzt befand sie sich im Ausbildungszentrum des deutschen NERV-Zweiges in der Arkologie von Wilhelmshaven und baute ihren Frust ab.

Selbst nach all den Jahren versuchte ihr Vater immer noch, wenn ihm der Sinn danach stand, eine Verbindung zu seiner Tochter aufzubauen, auch wenn er inzwischen Asukas Patentante die Vormundschaft über das Mädchen übertragen hatte.

Mittlerweile schmerzten ihre Hände von den Schlägen, doch sie machte mit zusammengebissenen Zähnen weiter.

An jenem Tag, an dem ihre Mutter sich erhängt hatte, war sie vom MARDUK-Institut als Pilotin eines EVANGELIONs ausgewählt worden, das Training war ihre Art gewesen, den Tod der Mutter zu verdrängen. Doch unterschwellig waren all die Gefühle noch vorhanden, Wut, Enttäuschung, Hass...
Ihr war klar, dass sie in ihrem gegenwärtigen Zustand unleidlich war und einem explosionsbereiten Pulverfass gleich – deshalb machten alle einen weiten Bogen um sie, selbst Jörgi, der technische Betreuer von EVA-02, und Major Maasters, der Kommandant der Zweigstelle.

„Asuka."

Die Stimme riss sie aus ihrem tranceartigen Zustand.

Sie ließ die Fäuste sinken, drehte sich langsam um.

Ihre Augen leuchteten auf, als sie den hochgewachsenen dunkelhaarigen Mann sah, der neben der Eingangstür stand, einen unrasierten Japaner mit Drei-Tage-Bart, gekleidet in Jeans und ein Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte. Er wirkte ungewohnt ernst.

„Kaji!" rief sie und wollte auf den ihr zugeteilten Sicherheitsexperten zulaufen, stoppte aber, als sie seiner ernsten Miene gewahr wurde.

„Kaji, was ist?"

„Dein Onkel hat gerade angerufen - deine Tante wurde ins Krankenhaus gebracht."

Asuka wurde blass.

„Was ist mit Tante Ann?"

„Asuka, sie ist krank, sehr krank..."

*** NGE ***

Der Mann saß mit vorgebeugtem Oberkörper auf einem Plastikstuhl auf dem Krankenhausflur, das Gesicht in den Händen verborgen. Gekleidet war er in einfache Jeans und ein kariertes Hemd, neben ihm lag achtlos hingeworfen eine leichte Jacke. Er hatte schwarzes Haar und kantige Gesichtszüge.

Und er wünschte, imstande zu sein, weinen zu können...

Schritte kamen den Gang hinab.

Er sah auf, sah Kaji und Asuka auf ihn zukommen. Das Mädchen trug noch immer den verschwitzten Trainingsanzug.

„Onkel Wolf, was ist geschehen?" rief Asuka und beschleunigte ihre Schritte. „Wo ist Tante Ann?"

Er deutete auf die Tür, neben der er gewartet hatte.

„Sie untersuchen sie noch... Asuka, deine Tante liegt im Koma. Sie hat... sie hat..."

Er presste die Lippen zusammen, ansonsten wirkte sein Gesicht seltsam unbeweglich.

„Es ist ein Gehirntumor... inoperabel…"

„Nein..."

„Sie wusste es schon seit einiger Zeit, aber..."

„Mein Mitgefühl, Commander Larsen." murmelte Ryoji Kaji.

„Danke, Major Kaji." erwiderte der Mann dumpf, ohne den anderen anzusehen.

Schweigend warteten sie.

Das Erscheinen eines weiteren Mannes unterbrach die Stille, doch es war keiner der Ärzte, niemand, der etwas über den Zustand Ann Larsens aussagen konnte, sondern ein Mann in grauem Anzug, schütterem ergrautem Haar und ungesund gelbstichiger Gesichtsfarbe, der einen starken Nikotingeruch mit sich brachte.

„Commander Larsen, endlich finde ich Sie."

„Sir, kann das nicht..."

Der andere schüttelte den Kopf.

„Tut mir leid, das kann es nicht. In Tokio-3 ist ein Engel aufgetaucht."

Seine Mimik veränderte sich unmerklich, wurde noch mehr zu einer starren Maske.

„Oh, verdammt... und was tut NERV?"

„Die UN-Truppen sind weltweit in Alarmbereitschaft, das gleiche gilt für sämtliche ODIN-Agenten. Wir haben versucht, Sie zu erreichen, aber Ihr Handy..."

„Ich habe es abgestellt." antwortete Larsen ohne Gefühlsregung. Der andere kannte ihn gut genug, um weder nachzuhaken, noch Vorwürfe zu erheben. „Es beginnt also... was ist nun mit NERV?"

„Die UN hat NERV das Oberkommando über die Aktion zugewiesen, nachdem auch der Einsatz einer N2-Miene keinen Erfolg gebracht hat. Der EVANGELION-Prototyp ist im Nahkampf hoffnungslos unterlegen."

„Also werden sie EVA-01 einsetzen, das Testmodell... wissen Sie inzwischen Näheres?"

„Nein, noch nicht, keine Ahnung, weshalb unsere Freunde immer derart unruhig werden, sobald sie über Einheit-01 sprechen."

„Und Asuka?"

„Man wird sie wahrscheinlich in Bälde anfordern."

Larsen senkte den Kopf.

„Ich will sie nicht auch noch verlieren..."

Zwischenspiel

Yui ist überzeugt davon, dass die menschliche Evolution eine Sackgasse erreicht hat. Ich teile ihre Meinung. Der Mensch hat sich die Erde untertan gemacht und besitzt ohne entsprechende Herausforderungen keinen Grund mehr, sich anzupassen und weiterzuentwickeln. Wir sind allerdings unterschiedlicher Ansichten hinsichtlich möglicher Lösungen. Yui sieht in der Vernetzung von Mensch und Maschine den nächsten Schritt in der menschlichen Evolution, den Weg aus der Sackgasse. Doktor Naoko Akagi arbeitet an einem neuartigen Biocomputer, der menschliche, neurale Netzbahnen nachahmt, das Herz dieses Rechners ist ein Interface sein, welches eine Verbindung zwischen dem menschlichen Gehirn und dem Rechner herstellt. Doktor Kyoko Soryu forscht in Deutschland auf einem ähnlichen Gebiet, der Steuerung kybernetischer Prothesen durch den menschlichen Willen.
Ich dagegen bin der Meinung, dass man direkt am menschlichen Gencode ansetzen muss. Auf diese Weise ließen sich nicht nur Erb- und andere Krankheiten auslöschen, sondern grundlegende Veränderungen am Wesen des Menschen selbst ermöglichen. Wir könnten widerstandsfähiger und kräftiger werden. Wir könnten in den Tiefen der Ozeane und anderen Welten existieren, was uns einen Grund geben würde, mit der Eroberung des Weltalls zu beginnen. Alles wäre durch genetische Anpassung möglich – in der Theorie. Ich benötige aber ein Spezimen, welches über die gewünschten Fähigkeiten verfügt, damit ich seine DNA studieren kann hinsichtlich der Effekte.
Natürlich lacht man über meine Ideen – nur Yui nicht.
Tief in ihrem Herzen weiß ich, dass ich sie und ihre Liebe nicht verdiene. Sie ist mein Licht in der Dunkelheit und das Netz, welches mich zusammenhält, wenn die tief in mir schlummernde Wut mich zu übermannen droht.
Gendo Ikari, Persönliche Aufzeichnungen, Herbst 1997

Kapitel 02 - Das Wiedersehen

Unter der Führung Ritsuko Akagis erreichten sie sehr bald eine gewaltige Halle, die Shinji an einen großen Wassertank erinnerte, denn anstelle auf festem Boden bewegten sie sich nun über mehrere miteinander verbundene Stege zwischen seltsamen Käfigkonstruktionen, die größtenteils in einer rötlichen Flüssigkeit versenkt waren.

Und schließlich standen sie einem weiteren Riesen gegenüber, nur befand dieser sich völlig reglos bis zu den Schultern in der Flüssigkeit. Der Schrecken über die plötzliche derart direkte Konfrontation mit dem Riesen fuhr Shinji in die Glieder, zugleich stellte ein Teil seines Denkens völlig unkritisch fest, dass das Wasser - oder worum auch immer es sich bei der Flüssigkeit handelte - recht tief sein müsste, während ein wiederum anderer Teil zu der Erkenntnis kam, dass dieser größtenteils versenkte Gigant mit keinem der beiden von draußen identisch war.

Shinji blickte direkt in zwei große leblose Augen, der Riese schien einen Helm mit einem einzelnen Horn zu tragen, die dominierenden Farben an dem von ihm sichtbaren Teil waren Purpur und Grün. Unterhalb des Helmes konnte Shinji ein kräftiges Gebiss erkennen.

Die Schultern verbargen sich unter massiv erscheinender Panzerung.

„Noch ein Roboter..." keuchte der Junge.

„Eigentlich ist es kein Roboter", erklärte Akagi in schulmeisterlichem Tonfall, „sondern eine von Menschenhand geschaffene Kampfmaschine auf der Basis eines kybernetisch verstärkten biologischen Organismus - der Humanoid EVANGELION. Unser letzter Trumpf. Dies hier ist Einheit-01, das Testmodell. Du hast draußen den Prototypen gesehen."

„Ich... ah... ja... Der Engel hat ihn..."

„EVA-00 wurde schwer beschädigt, das ist korrekt, aber sein Einsatz hat uns die nötige Zeit verschafft."

„Gehört... gehört das alles hier auch zur Arbeit meines Vaters?"

„So ist es."

Es war keine der beiden Frauen gewesen, die ihm geantwortet hatte, sondern eine tiefe Männerstimme bar jeder Emotion.

Shinjis Blick wanderte nach oben. Dort, hinter einer Öffnung in der Wand, war die Silhouette eines Mannes vor hellem Lichtschein zu erkennen. Der Mann tat einen Schritt auf die Kante des Beobachtungsdecks zu, so dass Shinji ihn erkennen konnte.

Stocksteif, schwarzhaarig, Vollbart, schwarze Uniform, weiße Handschuhe, die Augen hinter einer Brille mit verspiegelten Gläsern verborgen, die Gesichtszüge bewegungslos wie bei einer Statue… Shinji schluckte beim Anblick seines Vaters. Warum konnte er ihn nur mit dieser reglosen Miene anblicken, warum nur so strafend, dass er den Drang verspürte, in sich zusammenzusinken und in einer dunklen Ecke zusammenzukauern… warum konnte er ihn nicht einfach mit einem Lächeln begrüßen… All die Hoffnungen, die er aufzubauen gewagt hatte während der Reise, zerfielen von einem Herzschlag zum nächsten in einen Scherbenhaufen. Seine Hände begannen zu zittern und seine Unterlippe zu beben.

„Es ist lange her." kam es gefühllos von oben.

„Papa..." flüsterte der Junge.

Gendo Ikari verzog keine Miene, seine Augen wirkten kalt, während er seinen Sohn fixierte.

„Shinji! Hör gut zu, was ich dir jetzt sage: Du wirst in diese Maschine einsteigen und gegen den Engel kämpfen..."

Shinji glaubte, einen Faustschlag in die Magengrube erhalten zu haben.

Das konnte sein Vater nicht ernst meinen...

Sein Unterkiefer klappte herunter.

„Was...?"

„Warten Sie, Kommandant!" rief Misato Katsuragi, die nicht weniger überrascht zu sein schien. „Er ist gerade erst angekommen, er ist völlig untrainiert - selbst Rei hat über ein halbes Jahr gebraucht, um überhaupt Minimalsynchronisation zu erreichen!"

„Er muss nur einsteigen, mehr verlange ich nicht."

Der ältere Ikari sprach von seinem Sohn in einem Tonfall, als wäre dieser gar nicht anwesend.

„Aber..."

„Colonel Katsuragi, muss ich Sie daran erinnern, dass der Kampf gegen den Engel absoluten Vorrang hat? Das Ziel: Satchiel konnte zwar durch den Einsatz der N2-Mine vorerst gestoppt werden, ist aber bereits dabei, die Schäden zu regenerieren! Wir müssen einen Menschen in den EntryPlug setzen, dessen Synchronisation mit dem EVA zumindest möglich ist - oder haben Sie eine andere Lösung?"

Misato biss sich auf die Lippe, senkte den Blick, fühlte sich klein und schwach unter dem kalt brennenden Blick des Kommandanten. Zögerlich blickte sie zur Seite, sah Shinji an, bewegte lautlos die Lippen zu einem „Ich habe es versucht..."

Ritsuko Akagi schob Shinji auf eine Metallleiter zu.

„Also, komm her, Shinji..."

Shinji Ikari hatte Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten, zu stark zitterten seine Knie. Zugleich konnte er nur langsam verarbeiten, was sein Vater von ihm wollte, dass er ihn nach all der Zeit nur zu sich gerufen hatte, um ihn als... Versuchskaninchen zu verheizen...

„Das... das kann nicht dein Ernst sein... ich kann... ich kann das nicht!"

„Oh, doch! Du bist geeignet, sogar besser als jeder andere Kandidat."

„Warum?"

Unbewusst öffnete und schloss er die Faust wieder und wieder.

Noch immer zitterten seine Knie. Sein Herz raste. Seine Lippen bebten.

„Ich verstehe das alles nicht!" schrie er ohne zu seinem Vater aufzusehen, ohne ihm in die kalten Augen zu blicken, die fast so sehr spiegelten wie die dunkle Brille, welche er sonst immer bei ihren Begegnungen getragen hatte.

„Ich verstehe nicht!" wiederholte er, rang nach Atem.

„Das musst du auch nicht. Steige ein und kämpfe!"

Bei Gendo Ikari klang dies fast so, als fordere er seinen Sohn auf, den Müll ´rauszutragen.

Shinji sah wieder in die leblosen Augen des Wesens namens EVANGELION und eine tiefe kreatürliche Angst überkam ihn. Der Riese kam ihm bekannt vor, erweckte die schlimmsten Erinnerungen seiner Kindheit zu neuem Leben. Um keinen Preis der Welt würde sich diesem... Ding auch nur weiter nähern!

Und das sagte er seinem Vater auch:

„Nein, ich... ich will nicht! Ich kann das nicht... ich werde... ich werde auf keinen Fall einsteigen!"

Sein Herz pochte sogar noch schneller. Eine eiserne Klammer schien um seine Brust zu liegen.

Eine Antwort blieb aus, sah man von dem eisigen Blick ab, den der Vater auf seinen Sohn richtete.

„Hast du mich nur deshalb hergeholt? ... - Damit ich sterbe? ... - Damit du mich endgültig los bist?"

Wieder herrschte erdrückendes Schweigen.

Dann antwortete der Mann über ihnen.

„Wenn du es nicht tust, wird die Menschheit ausgelöscht. Unser aller Leben hängt von dir ab!"

„Nein! Ich... ich glaube das... nicht! Ich will nicht!"

Mittlerweile liefen Tränen über Shinjis Wangen.

Die Temperatur in der gewaltigen Halle schien zu fallen, während Gendo Ikari auf seinen Sohn herabsah.

„Gut. Ich habe verstanden... Du kannst gehen, einen wie dich kann ich nicht gebrauchen, du bist nur ein nutzloser Feigling, der meine Zeit vergeudet."

Shinji presste die Lippen zusammen.

Feigling...

Sein Vater hatte ihn nie verstehen wollen, es nie versucht...

Feigling...

Und doch traf ihn dieses eine Wort mit unvorstellbarer Zielgenauigkeit mitten ins Herz, ließ nicht zu, dass er Erleichterung verspürte, nicht in die menschenähnliche Maschine steigen zu müssen, erlaubte nicht einmal den Hauch von Befriedigung, ihm gegenüber seinen Willen durchgesetzt zu haben.

Gendo Ikari drehte sich halb um, wandte sich einem Monitor des Interkomsystems des Stützpunktes zu.

„Fuyutsuki, bring Rei."

„Ihr Zustand ist kritisch, die Verletzung sind teilweise wieder..."

„Sie ist noch nicht tot, oder?"

„Nein."

„Dann schick sie mir!"

Der ältere Mann am anderen Ende der Verbindung nickte nur, seinem Gesichtsausdruck war anzusehen, dass er nur mit schwerem Herzen handelte.

Ritsuko Akagi trat von Shinji zurück, warf ihm einen Blick zu, mit dem man einen Haufen Exkremente begutachtete, in welchen man gerade hineingetreten war, ehe sie die Metallleiter hinauflief und in Richtung eines großen Plexiglasfensters, hinter dem sich undeutliche menschliche Umrisse bewegten, rief: „Schreibt das Betriebssystem wieder auf Rei um! Schnell, wir haben schon genug Zeit verloren!"

Shinji stand nur da, den Oberkörper vorgebeugt, die Hände gegen die Oberschenkel gepresst, und gab undeutliche schluchzende Geräusche von sich.

Misato Katsuragi legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter, erzielte aber keine Reaktion.

Diese trat allerdings ein, als zwei Männer in Ärztekitteln im Laufschritt eine Rolltrage hereinschoben, auf welcher ein Mensch lag, ein zerbrechlich wirkendes Mädchen in Shinjis Alter mit blasser Haut und blauem Haar. Es trug einen hauteng wirkenden weißen Anzug mit tiefblauen Absätzen, bei dem die Ärmel und ein Bein fehlten. Beide Arme waren verbunden, der eine einschließlich der Schulter, während der andere zusätzlich in einem dicken Gips steckte. Ebenfalls verbunden war das Bein vom Oberschenkel bis zum Fuß. Eine weitere Bandage war um ihre Stirn gewickelt, bedeckte dabei das linke Auge. Das andere starrte trüb vor Schmerz zur Decke, es hatte eine tiefrote Farbe.

„Das..." flüsterte Shinji leise, konnte den Satz aber einfach nicht vollenden.

Er hatte das Mädchen wiedererkannt, er hatte es bereits gesehen, vorhin auf dem Bahnsteig... vorhin... oder vor einer Ewigkeit...

Gendo Ikari ignorierte seinen Sohn vollkommen, sprach das Mädchen auf der Trage an, aus dessen Arm einer der begleitenden Mediziner gerade die Infusionsnadel entfernte.

„Rei... Wir können deinen Ersatzmann nicht gebrauchen... Du musst noch einmal ´raus."

Dieses Mal klang seine Stimme nicht kalt und fordernd, stattdessen schwang in ihr sogar ein Hauch von Sorge mit.

Das Mädchen bewegte die Lippen, presste ein „Gut" hervor, dann ein „Verstanden". Es ballte die Rechte zur Faust, versuchte dann, sich aufzusetzen und von der Trage aufzustehen. Der Versuch scheiterte schon im Ansatz, sie schaffte es gerade, sich auf die Seite zu drehen.

Ihre Finger gruben sich in den Bezug der Trage, sie biss die Zähne zusammen, verschluckte einen Schmerzensschrei, als sie glaubte, etwas in ihrem Inneren würde zerreißen. Auf ihrem verzerrten Gesicht stand eine dicke Schweißschicht, durch welche heiße Tränen tiefe Bahnen gruben.

Shinji stand nur da und blickte sie an, konnte keinen Muskel rühren.

Der Anblick des Mädchens, welches um jeden Zentimeter kämpfte, während die beiden Mediziner nur teilnahmslos neben der Trage standen, fraß sich tief in sein Herz und sein Denken.

Dieses Mädchen sollte für ihn kämpfen, obwohl es nicht einmal im Stande war, allein aufzustehen... In diesem Moment fühlte er sich wirklich wie Abschaum, wollte sich zu seinem Vater hin umdrehen, als die Halle erzitterte. Shinji blickte zur Decke hinauf, ebenso Misato und Gendo.

Wieder wurde die Halle erschüttert, dieses Mal heftiger.

Etwas krachte.

„Er... er will durchbrechen..." vermutete Misato und meinte damit den Engel an der Oberfläche.

Weitere Erschütterungen folgten, heftiger und rascher hintereinander.

Shinji bemerkte, dass die Mediziner eilig die Halle verließen, während das blauhaarige Mädchen immer noch versuchte, sich von der Trage zu schieben.

Die Trage wackelte heftig unter den Erschütterungen, schien auf dem Steg tanzen zu wollen, stürzte dann um.

„Vorsicht!" brüllte Shinji im gleichen Moment und löste sich - endlich - aus seiner Erstarrung, lief zu dem Mädchen hinüber, welches nun auf dem Boden lag und einen Schmerzenslaut nicht mehr unterdrücken konnte. Dennoch versuchte es sich weiterhin aufzusetzen, was ihm auch halbwegs gelang, bevor es kraftlos zurücksackte - genau in Shinjis Arme.

Er starrte in ihr Gesicht, während ihn eine weitere Erkenntnis überkam - der Name des Mädchens war Rei, und genau mit diesem Namen hatte Misato den anderen EVANGELION angefeuert - also musste das Mädchen, dessen Gesicht eine einzige Maske von Schmerz war, das ihn nicht einmal wahrzunehmen schien, der Pilot gewesen sein...

„Shinji..." zögerlich näherte sich ihnen Misato Katsuragi. „Shinji, wir brauchen dich! Du musst..." Sie schluckte, blickte fahrig nach oben, wo immer noch die dunkle Gestalt des Kommandanten stand. „Shinji, du wusstest, dass es kein freudiges Wiedersehen mit deinem Vater werden würde, oder? Willst du seine Worte einfach so hinnehmen? Wenn du nicht handelst, dann muss... dann wird Rei einsteigen... Bist du wirklich ein solcher Feigling?"

Shinji antwortete nicht.

„Lassen Sie ihn, Colonel." befahl Gendo Ikari, bevor er sich an seinen Sohn wandte. „Shinji, wenn du gehen willst, dann verschwinde endlich!"

Langsam hob Shinji den Blick, traf den seines Vaters, wollte ihn zur Hölle wünschen, als ein Teil der Deckenkonstruktion herunterkam...

*** NGE ***

Shinji sah die fallenden Trümmer und handelte instinktiv, indem er sich schützend über das blasse Mädchen warf.

Doch der erwartete Schmerz, die Treffer, mit denen er gerechnet hatte, beides blieb aus.

Er blickte nach oben, dorthin, wohin auch ein völlig überraschte Misato Katsuragi blickte, welche gerade langsam die schützend über den Kopf gehobenen Arme wieder sinken ließ.

Wie ein schützendes Dach schwebte über ihnen der Unterarm des EVANGELIONs, der die Trümmerstücke abgelenkt hatte. Vom Arm baumelten noch Teile der Käfigkonstruktion, welche ihn in aufrechter Stellung hielten.

„Das... das..." haspelte Misato. „Er hat reagiert, obwohl er gar keine Energie hat... wie ist das..."

Shinjis Aufmerksamkeit wurde von dem Mädchen in seinen Armen in Anspruch genommen, das ein dumpfes Stöhnen von sich gab und ihn jetzt direkt ansah, Reis nicht verbundenes Auge war klar und wach.

„Bist du... bist du in Ordnung?" fragte Shinji und hätte sich im nächsten Moment mit der Hand gegen die Stirn schlagen können. Natürlich war sie nicht in Ordnung. Nichts war in Ordnung!

Ihre Lippen zitterten, im nächsten Moment wurde ihm klar, dass sie etwas sagte: „Ikari... Shinji Ikari..."

Er blinzelte heftig.

Sie kannte seinen Namen... woher?

Ehe er sie fragen konnte, spürte er, wie ihr Körper in seinen Armen erschlaffte, zugleich spürte er klebrige Nässe an der Hand, mit der er ihren Rücken stützte.

Langsam zog er die Hand hervor, stellte mit Entsetzen und aufsteigender Übelkeit fest, dass es sich um Blut handelte.

„Misato-san..." flüsterte er.

Die Angesprochene warf den Kopf herum und eilte zu ihm.

Vorsichtig legte er Rei in ihre Arme.

„Sie... sie braucht einen Arzt, sofort..."

Dann richtete er sich langsam auf und sah seinen Vater an.

„Ich soll einsteigen?"

Er ballte die Fäuste derart fest, dass es schmerzte.

„Du willst es immer noch?"

Gendo Ikari gab keine Antwort.

„Gut, ich werde es tun..."

Damit wandte er sich ab und ging schlurfend und mit hängenden Schultern auf Ritsuko Akagi zu.

„Na also", murmelte die Wissenschaftlerin. „Komm, ich erkläre dir das Steuerungssystem, wir haben nicht viel Zeit..."

Noch einmal blieb Shinji stehen, warf einen Blick zurück über die Schulter.

„... aber ich tue es nicht für dich..."

Den anderen Ikari schienen seine Worte nicht zu berühren, denn seine Mundwinkel zuckten zu einem kurzen triumphierenden Lächeln... als ob ihn das interessierte…

*** NGE ***

„Sie hat ihn beschützt…" murmelte der Stellvertretende Kommandant Kozo Fuyutsuki im Kommandostand des Stützpunktes tonlos. Dann schloss er kurz die Augen, während ein dünnes Lächeln seine faltigen Lippen umspielte.
„Ikari, wenn dem Jungen etwas passiert, wird sie uns das niemals vergeben…"

2. Zwischenspiel:

Meine Mutter ist tot, sie starb, als ich vier Jahre alt war. Mit meinem Vater habe ich wenig Kontakt, und das ist gut so. Ich lebe bei meiner Patin, Tante Ann, und ihrem Mann, Onkel Wolf. Onkel Wolf ist mir all die Jahre ein besserer Vater gewesen, als mein Erzeuger je hätte sein können, deshalb schreibe ich über ihn und Tante Ann, anstatt über meine Eltern.

Onkel Wolf arbeitet für ODIN, ODIN ist eine Organisation, die im Jahre 2003 zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus gegründet wurde. Heute ist ODIN der wichtigste Geheimdienst der Vereinten Nationen. Onkel Wolf gehört zu den Außendienstagenten, Tante Ann und ich hoffen, dass er bald in den Innendienst versetzt wird, damit er mehr Zeit zuhause verbringen kann. Wenn das Direktorium von ODIN zu dem Schluss kommt, dass ein böser Mensch dem Weltfrieden gefährlich werden kann, beauftragen sie Onkel Wolf und sein RABEN-Team, sich der Sache anzunehmen. Er tötet den bösen Mann oder die böse Frau dann..."

Auszug aus einem als Hausarbeit verfassten Aufsatz zum Thema „Was meine Eltern tun" von Asuka Soryu Langley, Sommer 2007. Nichtüberarbeitete Erstfassung.

Kapitel 03 - Die Bestie

Es war eng in der Steuerkapsel des EVANGELIONs, sie war ausgefüllt mit Monitoren und einem einzelnen Sitz, von dem aus man Zugriff auf die Steuerung hatte. Für Shinji war gerade ausreichend Platz, um sich in den Sessel zu schieben, ohne größere Verrenkungen zu unternehmen.

Als er in dem Sessel Platz genommen hatte und seine Hände die pistolengriffartigen Steuerelemente umfassten, fühlte er sich plötzlich ganz ruhig, war die Angst verflogen, hatte dem Willen Platz gemacht, es seinem Vater zu zeigen, ihm zu beweisen, dass er sich irrte, dass er kein Feigling war, dass er kein Recht hatte, ihn so zu nennen... Sicher würde er das einsehen, wenn er für ihn gegen den Engel kämpfte...

Engel...

Wie konnte man nur auf eine solche Bezeichnung kommen?

Jeder, der das dunkle Wesen bei seinem Marsch auf die Stadt gesehen hatte, konnte es nur für einen Dämon halten, ein Ungeheuer, das einem Alptraum entsprungen war...

Ein Rucken verriet, dass die Kapsel bewegt wurde, zugleich erhellte sich ein kleiner Bildschirm seitlich des Hauptmonitors, einer von insgesamt sechs, das Bild zeigte Ritsuko Akagi zusammen mit der Bildunterschrift: NERV-Kommandozentrale. ComLink Aktiv. Live-Übertragung.

„Der Plug wird jetzt in den Steuernerv des EVA eingeführt."

Shinji nickte nur, starrte an ihr vorbei auf den immer noch dunklen Hauptbildschirm.

Der Sitz mitsamt der Steuerung bewegte sich leicht, passte sich dem neuen Winkel der Kapsel an. Ein letzter Ruck, das Geräusch schließender Verankerungen und der EntryPlug hatte seine neue Position eingenommen.

Noch war der Bildschirm dunkel.

Akagis Gesicht war nicht mehr der Kamera zugewandt, sondern irgendwelchen Anlagen im Hintergrund.

Eine junge Frauenstimme meldete, dass die Fixierung des Plugs abgeschlossen war.

Akagi nickte.

„EntryPlug fluten!"

„Ah..." setzte Shinji zum Protest an. Fluten - das klang gar nicht gut, das klang in seinen Ohren überhaupt nicht gut, zumal plötzlich aus dem Bodengitter eine klare, wenn auch leicht rötlich schimmernde Flüssigkeit aufzusteigen begann.

„Was... ich... wollt ihr mich ertränken?" schrie er, der erneut erwachenden Panik nachgebend.

„Keine Angst", kam es ruhig von Akagi, die nicht einmal auf den Bildschirm sah, „wenn deine Lunge mit LCL gefüllt ist, kann sie den Sauerstoff direkt aus der Flüssigkeit aufnehmen."

Wieder setzte Shinji zum Protest an, schließlich hatte niemand etwas gesagt, dass er irgendwelche Flüssigkeiten atmen sollte - außerdem war er kein Fisch, wie sollte er diese klare Brühe atmen können, das war doch völlig unmöglich! Doch die schnell ansteigende Flüssigkeit schlug über seinem Kopf zusammen.

Prustend versuchte er, den Kopf über Wasser zu halten, aber da machte ihm der Kreuzgurt einen Strich durch die Rechnung, der ihn an den Sitz fesselte.

Shinji konnte nicht schwimmen, hatte es nie lernen wollen, sein stärkster Kontakt mit Wasser fand in der Badewanne statt - und eine der Sachen, die er am meisten hasste, war es, mit dem Kopf unterzutauchen.

Doch ihm blieb keine andere Wahl...

„Halt durch! Du gewöhnst dich schnell daran!" versuchte Misato ihm Mut zu machen, welche Akagi zur Seite geschoben hatte.

Shinji blähte die Backen auf.

Kleine Luftblasen quollen ihm aus Mund und Nase.

Seine Lungen schrien förmlich nach Sauerstoff, zugleich fingen seine Augen an zu brennen.

Und schließlich gab er nach, konnte den Atem nicht länger anhalten, ergab sich den seiner Ansicht nach ertränkenden Wassermassen.

Die von Ritsuko Akagi als LCL bezeichnete Flüssigkeit drang ihm in den Mund, flutete Nase und Mundhöhle.

Er würgte, wollte die Flüssigkeit ausspucken, hatte einen Geschmack wie von alter feuchter Pappe im Mund... konnte atmen...

Der erste Atemzug geschah geradezu unbemerkt, der zweite machte ihm klar, dass er so schnell noch nicht sterben würde, dass die Flüssigkeit tatsächlich atembar war.

Nur mit halbem Ohr lauschte er den Durchsagen aus dem Kommandoraum.

„Steuerungsprogramm umgeschrieben." - „Hauptstromquelle angeschlossen, interne Akkus geladen!" - „A-10 Nervenverbindungen geschlossen. Keine Komplikationen!" - „Alle Primärkontakte online." - „Synchronisationsfehler unterhalb von 0,3%!"

„Phantastisch..." murmelte Akagi. „Und gleich auf Anhieb..."

Shinji spürte einen anwachsenden Druck in seinem Kopf, einen Druck, der sich direkt auf seinen Geist ausübte wie von einer Klammer. Er fühlte sich seltsam vergrößert, so als ob sein Körper plötzlich um ein Vielfaches gewachsen wäre, spürte nicht nur die LCL-Flüssigkeit, die seinen Körper, sondern auch den des EVAs bis zu den Schultern umgab, spürte das Metallgitter, auf dem der Koloss auf dem Boden der gefluteten Halle stand, spürte das Gewicht der Panzerung, spürte jeden einzelnen der Kontakte, wo der EVA noch mit dem Haltegerüst verbunden war, Kontakte, die einer nach dem anderen gelöst wurden.

Der Hauptmonitor leuchtete auf, doch dies war eigentlich gar nicht nötig, denn Shinji glaubte, durch die Augen des EVAs zu blicken.

Es war atemberaubend, die Fülle an Eindrücken, die auf ihn einstürmte, unbeschreiblich.

Die Menschen im Testzentrum, die Techniker, die sich auf den verschiedenen Stegen befanden, alle wirkten wie Zwerge aus dem Blickwinkel des EVAs.

Auf dem ComLink-Monitor war deutlich zu erkennen, wie Misato Katsuragi schluckte. Dann erklärte sie mit fester Stimme: „Einheit EVANGELION-01, vorbereiten zum Start!"

Shinji spürte, wie unter ihm Maschinen anliefen, ein weiterer kleiner Monitor neben dem Hauptbildschirm, aber auf der anderen Seite als die ComLink-Monitore, verkündete in großen Lettern:

STARTVORBEREITUNGEN ABGESCHLOSSEN. ENERGIEVORRAT -:-:-

Die Segmente des Käfigs, der EVA-01 bisher gehalten hatte, öffneten sich.

Shinji fühlte sich angehoben, sah nach unten, sah durch die Augen des EVAs, dass dieser auf einer Liftplattform aus dem großen LCL-Becken gehoben und schräg nach oben zu einem von mehreren senkrecht nach oben führenden Schächten transportiert wurde.

Versuchsweise ballte er eine Hand zur Faust, verfolgte, wie der EVA ohne Verzögerung seinen geistigen Befehlen nachkam.

Doch da war noch etwas...

Einen Moment lang hatte er das Gefühl, nicht allein in der Steuerkapsel zu sein, glaubte er, einen huschenden Schatten wahrzunehmen.

„Mi-Misato-san..." flüsterte Shinji, während seine Augen suchend hin- und herhuschten, ohne eine zweite Person in der Kapsel zu finden.

Katsuragi bemerkte seine Probleme nicht, denn sie blickte gerade zu Gendo Ikari hinauf, der von seinem höhergelegenen Kommandoposten aus das Geschehen in der Zentrale beobachtete.

„Sir, EVA-01 befindet sich in Gate 5 auf Stand-by. Starten?"

„Natürlich." erklärte der ältere Ikari, der mit gefalteten Händen hinter seinem Tisch saß, die Ellenbogen auf die Platte gestützt, und durch seine dunkle Brille über den Grat seiner Fingerknöchel blickte. „Wenn wir den Engel nicht vernichten, gibt es für uns keine Zukunft."

Misato nickte, wandte sich den Wissenschaftlern und Offizieren zu.

„Start!"

Und EVA-01 schoss in die Höhe, der Oberfläche entgegen...

*** NGE ***

Shinji wurde von den entstehenden Andruckkräften in den Sitz gepresst, die ihm sogar das LCL aus den Lungen drückten.

Der Bildschirm links neben dem Hauptmonitor zeigte ihm die rasch schrumpfende Entfernung zur Oberfläche und den in wenigen Sekunden messbaren Zeitraum, den er für die verbleibende Strecke noch benötigte.

Dann endete der Höllenritt ebenso abrupt, wie er begonnen hatte, als EVA-01 aus einer riesigen Toröffnung, welche sich im Boden einer der von Bäumen gesäumten Hauptverkehrsadern von Tokio-3 geöffnet hatte, schoss.

EVA-01 stand aufrecht mitten in der nächtlichen Stadt, über ein Versorgungskabel an seinem Rücken erhielt er Energie, das Licht der Sterne reflektierte sich in seiner Rüstung - und etwas tiefer das Licht der Straßenlaternen, denn EVA-01 überragte die meisten Gebäude von Tokio-3

Leider galt letzteres auch für den Engel, dem der EVANGELION sich gegenübersah...

Shinjis erster Reflex, auf der Stelle kehrtzumachen und aus der Stadt zu flüchten, wurde von den letzten Sicherheitssperren vereitelt. Selbst jetzt, wo er sich auf einer Höhe mit dem dunklen Giganten befand, wirkte dieser nicht minder furchteinflößend.

„Shinji, alles klar?" drang Misatos Stimme aus dem in die Kopflehne integrierten Lautsprecher.

Dem Jungen liefen trotz der Tatsache, dass er sich völlig in der LCL-Flüssigkeit befand, dicke Schweißperlen über das Gesicht, als er nickte und ein „J-j-ja" stammelte.

„Letzte Sperren lösen! EVANGELION-01: Lift off!" kam es aus dem Lautsprecher. Und dann leiser, viel leiser: „Viel Glück, Shinji-kun..."

*** NGE ***

Durch die Augen des EVA starrte Shinji den Engel an, bei dem es sich laut der Computermitteilung auf dem taktischen Schirm unterhalb der Energieanzeige um ´Ziel: Satchiel´ handelte.

Der taktische Schirm war in viele kleine Felder unterteilt, von denen jedes eine andere Körperpartie des Engels in Vergrößerung zeigte, bei der es sich um einen Schwachpunkt handeln konnte.

Ebenso schien der andere ihn zu mustern, ihn einzuschätzen zu versuchen.

Längst stand der EVA nicht mehr so kerzengerade wie zu dem Zeitpunkt, als er den Schacht verlassen hatte. Nach dem Lösen der letzten Klammern hatte er ohne Shinjis Zutun den Oberkörper vorgebeugt und erinnerte von einer Haltung her jetzt eher an einen Affen als an einen Menschen.

In der Vergrößerung wirkte der Engel noch bedrohlicher, unterhalb des mitten auf der Brust befindlichen Vogelschädels war der Brustkorb geteilt, zwei dicke Knochen, die mit rippenartigen Querverbindungen versehen waren, umschlossen ein pulsierendes Etwas, welches der Computer mit dicken roten Symbolen markierte, demnach handelte es sich mit 63,8%iger Wahrscheinlichkeit um das Herz des Engels.

Seit Auftauchen des EVAs hatte sich der Engel nicht gerührt, stand nur da, dunkel, schweigend und furchteinflößend, schien auf eine Reaktion des anderen zu warten, war sich vielleicht sicher, auch mit diesem Gegner leichtes Spiel zu haben, so wie mit dem anderen in den Hügeln.

„Shinji-kun", meldete sich Misato wieder, riss den Jungen damit aus seiner Betrachtung des Engels, „Du musst loslaufen!"

„Laufen?" wiederholte Shinji.

Der ungewohnte Körper des EVAs schien zu schwanken, die veränderte Perspektive flößte ihm fast noch mehr Angst ein, als der Engel. Es war eine Sache, durch die Augen des Giganten zu blicken, ebenso wie es eine Sache war, einzelne Finger zu bewegen, oder eine Faust zu ballen - aber laufen?

„Wie... wie mache ich das?"

Misato wechselte einen kurzen Blick mit Akagi, welche Shinji wahrscheinlich eine viel bessere und detaillierte Erklärung hätte geben können, sich aber zurückhielt, so dass der Colonel improvisieren musste.

„Du brauchst es nur zu denken. Konzentriere dich und denke ´Laufen´!"

Shinji nickte abgehackt, kniff die Augenlider zusammen.

Laufen...

Keine Reaktion...

Laufen...

Etwas geschah!

Der EVA bewegte sich, hob einen Fuß an, setzte ihn vor, verharrte in dieser Haltung wie ein Sportler, der auf den Startschuss für ein Rennen wartet.

„Es... es klappt!"

Der EVA drückte das Bein durch, zog den anderen Fuß nach, setzte nun diesen vor, tat den nächsten Schritt.

Für Shinji war es fast unglaublich, es kam ihm vor, als wäre er selbst es, der gerade die ersten Schritte tat.

Doch noch mehr beeindruckt waren die beiden Frauen im Kommandostand, Misato Katsuragi und Ritsuko Akagi, die eine, weil sie tief in ihrem Inneren an einem Erfolg gezweifelt hatte, die andere aus Befriedigung, dass ihre Schöpfung funktionierte wie geplant.

Der EVA tat einen Schritt nach dem anderen, wurde dabei immer schneller, aus schrittweisem Schleichen wurde ein normaler Gang, daraus ein zügiges Ausschreiten, welches zu einem schnellen Lauf wurde, in dem der EVANGELION auf seinen Gegner zuraste.

Shinjis Hände krampften sich um die Steuerung. Er fühlte sich außerstande, den EVA anzuhalten. Da war es wieder, das Gefühl, nicht allein zu sein, doch dieses Mal äußerte es sich in einer Art Gedankenecho, das aus einer tiefen Schlucht zu kommen schien. Er fühlte Wut, Wut auf seinen Vater, die sich nun gegen den Engel richtete. Er fühlte Zorn, selbstzerstörerischen Zorn, der ihn den EVA weiter auf den Engel zustürmen ließ. Er spürte ein schier unglaubliches Gefühl von Freiheit, als er zwischen den Häuserreihen auf den dunklen Giganten zustürmte. Und er spürte Hass, unendlichen Hass, der sich in sein Denken fraß, den Hass eines anderen auf alles Leben, der in diesem Augenblick zu seinem eigenen wurde, eine kalte Dunkelheit, die nach seinem Herzen zu greifen schien, die ihn Misatos Aufforderung abzuwarten, ignorieren ließ, ihn stattdessen noch schneller rennen ließ.

Er wollte den Engel besiegen. Er wollte ihn töten, nicht, weil er dadurch die Stadt retten konnte, sondern weil er den Gegner verletzen, weil er ihn zerreißen wollte...

Ein lauter Wutschrei kam über seine Lippen, ein Kampfschrei, der eher zu einem urzeitlichen Vorfahren des Menschen gepasst hätte, als zu einem vierzehnjährigen Jungen.

Die Entfernung zu dem Engel verringerte sich, nur nebenbei nahm er die taktischen Anzeigen wahr, ignorierte das rote Warnleuchten.

Jetzt war er fast auf Armeslänge heran, grub in seiner Vorstellung bereits die Finger in die Hautmembran, die das Herz des Engels überzog, um es ihm herauszureißen, um es... zu... verspeisen... glaubte bereits, den Geschmack heißen Blutes auf den Lippen spüren zu können und das letzte pulsierende Zucken seiner Beute, die unter seinen Händen ihr Leben aushauchte...

Und wurde gestoppt, als er gegen das unsichtbare Schutzfeld prallte, welches den Engel umgab.

Schützend riss Shinji instinktiv die Arme vor das Gesicht.

Der EVA kam aus dem Rhythmus, stolperte, stürzte seitlich an dem Engel vorbei.

Zugleich verlor die Verbindung zwischen Maschine und Piloten an Kraft, wurde Shinji sich wieder seines eigenen Körpers in der Steuerkapsel gewahr.

EVA-01 stürzte nach vorn, rührte aus eigener Kraft keinen Finger, um den Sturz abzufangen, während der Junge im EntryPlug noch völlig unter dem Bann dessen stand, was er eben erlebt hatte.

Der Sturz endete schlagartig, als der Engel zupackte und den EVA in die Höhe riss. Der Hauptmonitor zeigte kein vollständiges Bild mehr, da eine Pranke des Engels teilweise die Augen bedeckte. Mit einer Hand stemmte der Engel den EVA an der Kopfpanzerung nach oben, begann, Druck auf den Schädel auszuüben.

Shinji schrie auf, vermeinte, sein eigener Kopf befände sich in einer langsam zudrückenden Schraubzwinge. Ein greller Blitz erhellte den EntryPlug, als aus der Hand des Engels ein Energiestrahl schoss, in die Schädelpanzerung einschlug und den Jungen blendete.

Der taktische Bildschirm zeigte einen Schadensreport zusammen mit einer Darstellung der entsprechenden Region. Der Kopfschutz zeigte Risse...

„Lauf weg! Shinji-kun, du musst... Bitte, hör zu, lauf weg!" schrie Misato.

Shinji wollte den Arm heben, wollte EVA-01 dazu bringen, den Arm zu heben, um gegen den Griff des Engels vorzugehen. Doch dieser bemerkte die ruckartige Bewegung und griff seinerseits zu, packte den Unterarm des EVANGELIONs, übte Druck aus, brach ihn mit einer spielerisch anmutenden Geste, als handelte es sich um einen dünnen Zweig.

Ein mentaler Schrei hallte in Shinjis Kopf wieder, der Schmerz des EVAs durchfuhr den Jungen, pflanzte sich durch dessen Körper fort, schien von seinem eigenen Arm auszugehen. Shinji war unfähig, die Hand zu bewegen, der ganze Arm schien in Flammen zu stehen, obwohl dem Arm nichts Derartiges anzusehen war, glaubte Shinji zu spüren, wie gebrochene Knochen aneinander rieben.

Und jetzt brüllte auch er vor Schmerz.

„Shinji-kun, beruhige dich! Was er festhält, ist nicht dein Arm, es scheint dir nur so wegen der Synchronisation! Du musst da weg!"

Shinji hörte sie, doch er verstand die Worte nicht, die Schmerzen bildeten eine Mauer um seinen Geist, welche Misato nicht durchdringen konnte.

Dann wurde es erneut hell im EntryPlug, als der Engel seinen Energieblitz einsetzte.

Der Junge glaubte, mit einem Vorschlaghammer gegen die Stirn getroffen worden zu sein, presste jene Hand, in der er noch Gefühl hatte, deren Arm er noch bewegen konnte, gegen die Stirn.

EVA-01 wurde schlaff im Griff des Engels.

Und wie ein Kind, welches kein Gefallen mehr an seinem Spielzeug fand, schleuderte dieser den EVANGELION wie eine Puppe, deren Schnüre durchtrennt wurden, fort. Mit voller Wucht flog der EVA in ein Gebäude hinein, sackte in sich zusammen.

*** NGE ***

Einen Moment lang herrschte völlige Stille in der Zentrale.

Der Engel hatte die einzige, die letzte Waffe der Menschheit besiegt, ohne sich dabei sonderlich anzustrengen...

Jemand begann leise zu beten, während ein anderer die Schadensmeldungen herunterrasselte, die über die Verbindung zum taktischen Computer der Einheit hereinkamen.

„Schaden am Kopfbereich. Art: unbekannt. Schwere: unbekannt. Stromkreise im linken Arm unterbrochen. Kontrollnerven gestört. Synchronrate fällt rapide. Zustand des Piloten im kritischen Bereich, Puls fängt an zu stocken. Lebenserhaltung ausgefallen. Keine Reaktion auf Steuerungssignale. Keine Reaktion auf versuchte Fernsteuerung durch MAGI. Signale werden abgelehnt. EVA-01 ist völlig still! Wiederhole: Zustand des Piloten kritisch. Keine Reaktion von EVA-01 auf Steuerungssignale!"

Misato hörte nur mit einem Ohr den Meldungen zu, für sie war die Lage bereits aus dem Bild auf dem gewaltigen, aus vielen Einzelbildschirmen bestehenden Monitor in der Kommandozentrale ersichtlich, welches den regungslosen EVA-01 zwischen den Trümmern des Gebäudes, in welches er wie eine Bombe hineingeschlagen war, zeigte.

„Operation abbrechen! Der Einsatz ist gescheitert! Wir müssen versuchen, den Plug zu bergen! – Und eine weitere N2-Sprengkapsel muss…"

Ritsukos wissenschaftliche Assistentin wandte sich ihr zu.

„Unmöglich, Colonel! Der EVA reagiert nicht, er ist völlig außer Kontrolle!"

„Was?"

Dann sah sie es selbst...

*** NGE ***

EVA-01 bewegte sich!

Die gerade erst scheinbar für immer erloschenen Augen glühten auf, heller und kräftiger als zuvor.

Die Kiefer öffneten sich, entblößten ein kräftiges Gebiss.

Dann stieß der EVANGELION einen langanhaltenden Schrei aus, der ebenso von Schmerz wie auch von Wut und Hass kündete.

Mit einer einzigen ruckartigen Bewegung richtete er sich auf. Der verletzte, zerquetschte und gebrochene Arm zuckte. Unter der Oberfläche schien sich etwas zu bewegen, dann fügte sich der Knochen von selbst zusammen, regenerierte sich der Schaden schneller, als das menschliche Auge es verfolgen konnte.

Der nicht vom Helm verborgene Teil des Gesichtes von EVA-01 schien sich zu einem breiten Grinsen zu verziehen, als wollte der EVA seinem Gegner zeigen, dass er bereit war zur zweiten Runde...

Der Junge jedoch, welcher den Koloss eigentlich in den Kampf steuern sollte, saß teilnahmslos mit glasigem Blick in seinem Sitz, anstatt auf der Steuerung lagen seine Hände in seinem Schoß und zitterten unkontrolliert...

Der EVANGELION beugte sich vor wie ein tollwütiger Stier, senkte den Kopf mit dem Horn, und rannte los, als wollte er den Engel aufspießen.

Der Engel wandte sich ihm zu, schien durch seine Haltung zu signalisieren, dass er bereits war, den Angriff anzunehmen, schien Siegesgewissheit auszudrücken, schließlich hatte er den purpur-grünen Gegner doch gerade erst regelrecht ohne nennenswerte Gegenwehr in den Boden gerammt.

Wieder raste EVA-01 auf seinen Gegner zu, schien dem gleichen Angriffsmuster zu folgen, wie beim ersten Mal.

Der Vogelkopf des Engels schien vor Erwartung leicht zu zittern, als der dunkle Riese sich leicht vorbeugte, um dem Ansturm des anderen besser begegnen zu können.

Doch unvorhersehbar für den Engel änderte der EVA seine Taktik, sprang plötzlich hoch in die Luft, flog, die zu Klauen gespreizten Finger seiner Hände voran, auf seinen Feind zu, Blutdurst in den Augen.

Wieder traf er auf das Schirmfeld des Engels, doch dieses Mal prallte er weder ab, noch ließ er sich aus dem Takt bringen oder stürzte gar, dieses Mal trieb er die Klauen direkt in das Feld hinein, schuf eine Lücke, die er kraftvoll erweiterte, indem er selbst ein ähnliches Feld projizierte. Dann hatte er die Barriere überwunden, griff den Engel selbst an.

Dessen Versuch einer Gegenwehr ging völlig in dem raschen, ebenso entschlossenen wie machtvollen Angriff des EVA unter. Mit einem kräftigen Tritt zerschmetterte EVA-01 das rechte Knie seines Gegners, so dass dieser zur Seite knickte und einen hellen zwitschernden Schmerzenslaut ausstieß, während der EVA selbst ein dumpfes Grollen von sich gab und noch einmal nachtrat, so als wollte er sich für die ihm zuvor zugefügten Schmerzen revanchieren.

Dann stieß er mit beiden Händen gleichzeitig zu, stieß sie in den Leib des Engels, stieß sie direkt in sein Herz.

Der Engel zuckte heftig, während die Hände des EVAs in seinem Inneren wüteten, warf sich mit einem letzten Kraftaufwand in die Höhe, schien seinen Gegner umarmen zu wollen, während er zugleich von innen heraus zu leuchten begann.

Dann endete der so plötzlich von einem Ungleichgewicht zum anderen herumgeschwenkte Kampf in einer von einem Lichtblitz begleiteten Explosion...

*** NGE ***

Misato Katsuragi blickte wie gebannt auf den Bildschirm, beobachtete den Kampf des wiederauferstandenen EVA-01 gegen seinen Gegner, nahm voller Überraschung die Regeneration des beschädigten Armes zur Kenntnis, wie auch Ritsuko Akagis Kommentar, dass Shinji eigentlich gar nicht der Lage sein dürfte, angesichts seiner kaum noch vorhandenen Synchronisation mit dem EVA irgendwelche Bewegungen, geschweige denn Kampfmanöver, zu vollziehen.

Dann prallte der EVA auf das Schirmfeld des Engels, noch immer übertrug der taktische Computer die gesammelten Daten zur Auswertung an den Hauptcomputer in den Eingeweiden des CentralDogma, dem Hauptquartier von NERV.

„Existenz des AT-Feldes bestätigt", raunte einer der Brückenoffiziere, ein langhaariger, noch recht junger Mann.

„Absolute Terror Field..." murmelte Misato. „Der ultimative Schutzschild der Engel..."

„Colonel, EVA-01 scheint... die Einheit baut ebenfalls ein AT-Feld auf!"

„Ritsuko?"

„Es stimmt, Misato... Und das ohne Training. Er baut ein AT-Felder mit dem des Engel gegenläufiger Polarität auf!"

„Kann er... kann er das Feld des Engels durchbrechen?"

„Können? Er tut es bereits."

„Aktivität der taktischen K.I. bestätigt." stieß eine junge Frau neben Akagi hervor, an deren Schulterstücken die Rangabzeichen eines First Lieutenant prangten.

„Danke, Maya", murmelte Akagi geistesabwesend, die wie gebannt auf den Hauptmonitor starrte. „Nicht vergessen – alles aufzeichnen…"

„Ja, Sempai."

Der Kampf näherte sich in rasender Eile dem Ende, EVA-01 schlug seinen Gegner regelrecht zusammen, stoppte jede Gegenwehr im Keim. Dann riss er ihm das Herz aus der Brust...

„Er hat den Kern des Engels separiert!" - „Starker Energieanstieg festgestellt! MAGI warnen... - Der Engel hat eine Art Selbstzerstörung aktiviert!"

„Shinji-kun, weg! Er sprengt sich selbst..."

Noch bevor Misato ihre Warnung beenden konnte, explodiert der Engel.

Erneut tobte eine Druckwelle durch die Straßen von Tokio-3, ließ Fenster zerbersten, entlaubte und entwurzelte Bäume, brachte nahe Häuser zum Einsturz und atomisierte die nächstgelegenen. Dort, wo die beiden Giganten eben noch gegeneinander gekämpft hatten, tobte ein flammendes Inferno, die Flammen schlugen teilweise höher als die umliegenden Häuser.

Der mit dem städtischen Beobachtungssystem verbundene Hauptcomputer vermeldete einen Totalausfall der Kameras im betroffenen Block und schaltete auf weiter entfernte Geräte um.

„Oh, mein Gott... der arme Junge..." flüsterte Misato.

Das Feuer wütete unkontrolliert, der Computer schätzte die Temperaturen im Zentrum, dort wo der Engel sich gesprengt hatte, vorsichtig auf hoch genug, dass selbst bester Stahl wie Butter in der Sonne schmelzen würde.

Misato schluckte.

Sie hatten gesiegt... nein, der Junge hatte für sie gesiegt... doch das konnte er nicht überlebt haben...

Kurz blickte sie zu Kommandant Ikari auf, der immer noch nach vorn gebeugt an seinem Pult saß, immer noch über den Grat seiner gefalteten Hände auf das Geschehen hinabblickte. Seinem Gesicht war keine Regung zu entnehmen, kein Muskelzucken, weder Triumph über den Sieg, noch Bedauern über das Schicksal seines Sohnes.

„Colonel Katsuragi..." versuchte einer der Offiziere ihre Aufmerksamkeit zu erringen.

„Ja, Leutnant Hyuga?"

„Wir empfangen immer noch Signale vom taktischen Computer von Einheit-01... Der EVANGELION muss noch immer irgendwo in dieser Flammenhölle sein."

„Wirklich?"

„Misato, da!"

Ritsuko Akagi deutete auf den Bildschirm.

Ohne Anweisung zoomte die Kamera näher heran auf ein Objekt, das sich hinter der Flammenwand bewegte, welches direkt aus der Hölle zu kommen schien.

Die Flammen brachen auf, wurden beiseitegeschoben wie ein Vorhang von Geisterhand. Aus ihnen hervor trat EVA-01, dessen Haltung nur eines auszudrücken schien: Triumph!

3. Zwischenspiel

Seit Wochen verfolgen mich seltsame Träume von einem Giganten im Ewigen Eis. Ich glaube, er wartet am Südpol auf mich. Ich glaube, er ruft mich… er ruft mich schon mein ganzes Leben lang. Ich weiß, dass er die Antwort auf meine Fragen besitzt.
Ich glaube, ich werde wahnsinnig!
In diesem Ruf liegt eine Finsternis, die meine dunkle Seite anspricht und stärkt…
Meine Konzentrationsfähigkeit lässt stark nach aufgrund des Schlafmangels. Ich bin gereizt und gerate rasch in Zorn.
Schlafmittel wirken nicht.
Ich streite immer häufiger mit Yui. Dennoch verzeiht sie mir immer wieder. Ich habe sie nicht verdient.
Ich habe Angst, Angst, den Verstand zu verlieren. Und Angst davor, dass meine Träume auch nur einen Funken Wahrheit enthalten könnten…
Wie lange kann ich dem Ruf noch wiederstehen…
Wie lange noch, ehe die Dunkelheit mich verschlingt?
Gendo Ikari, Persönliche Aufzeichnungen, Sommer 1998

Kapitel 04 - Schwarze See

Die Wellen schlugen über ihm zusammen.

Shinji versank in den LCL-Massen, doch es war keine klare Flüssigkeit mehr, sondern eine ölige schwarze Brühe, in der undefinierbare Dinge schwammen und welche nach Fäulnis und Tod schmeckte.

Er wollte die Flüssigkeit herauswürgen, so wie es sein revoltierender Magen verlangte, doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.

Er wollte mit panischen Bewegungen an die Oberfläche zurückgelangen, doch auch dies gelang ihm nicht.

Tiefer und tiefer sank er, verlor bald den letzten Lichtschimmer, der die Schwärze noch hatte durchdringen können, aus den Augen, verlor mit ihm jede Orientierung und Zeitgefühl.

Oben wurde zu unten, schon bald wusste er nicht mehr, ob er noch sank oder vielleicht auf einer Störung aufwärts getragen wurde.

Dann veränderte sich etwas, es wurde heller!

Das musste die Oberfläche sein...

Doch statt der erwarteten Rettung schälte sich nur ein einzelnes Objekt aus dem ewigen Dunkel, es war ebenfalls völlig schwarz, schien auf eine gewisse Art sogar noch dunkler zu sein als die Flüssigkeit, dabei aber von innen heraus zu leuchten.

In der Umgebung des Objektes verfärbte sich der schwarze Ozean blutrot.

Das Objekt hatte menschliche Ausmaße und Proportionen, schien auf Shinji zuzutreiben.

Konnte es vielleicht... ein Mensch sein?

Ein anderer Mensch, der ebenfalls in dieser Brühe festsaß...?

Dumpf erinnerte der Junge sich, dass er sich in der Steuerkapsel befunden hatte, dass er dort allein gewesen war... allerdings war in der Kapsel auch nicht genügend Platz für einen solchen Ozean gewesen...

Jetzt konnte er Einzelheiten ausmachen - zwei Arme, zwei Beine, ein Kopf, ein Gesicht... das Gesicht!

Er kannte dieses Gesicht!

Mutter!" stieß er hervor.

Vor seinem geistigen Auge tauchte ein Erinnerungsfetzen auf, eine Erinnerung an das letzte Mal, dass er sie gesehen hatte, daran, wie sie noch einmal lächelnd über die Schulter zurückgeblickt hatte, bevor sie die Kapsel bestiegen hatte... bevor sie gestorben war... bevor seine Welt zerbrochen war...

Das Wesen vor ihm hatte das Gesicht seiner Mutter! Es hatte ihre Augen!

Mutter, ich bin es..."

Etwas geschah...

Die Gesichtszüge seiner Mütter gerieten in Bewegung, begannen zu zerfließen...

Die Haut löste sich auf, schwamm in staubigen Flocken davon.

Das Fleisch löste sich in dicken rasch verwesenden Brocken von den Knochen, enthüllte stählerne Knochen, enthüllte ein anderes Gesicht...

Das Gesicht des EVAs...

Wo eben noch eine glatte Stirn gewesen war, wuchs jetzt ein einzelnes Horn, wo eben noch die gütigen Augen seiner Mutter gewesen waren, glommen jetzt dämonische Augen...

Shinji schrie...

Immer noch konnte er seine Arme und Beine nicht bewegen, immer noch näherte er sich dem Wesen, kam er dem Monstrum immer näher...

Es schien zu wachsen, wurde mit jedem Herzschlag größer und größer...

In der tiefschwarzen Haut des anderen bildeten sich weißglühende Linien, welche geometrische Muster formten. Aus der Brust schossen plötzlich schlangengleich zahllose Kabel, welche auf Shinji zukamen, sich um ihn legten, ihn zu zerdrücken schienen, ihn fast völlig umschlossen, ihn zu der Bestie heranzogen, auf die breite Öffnung zu, die sich in ihrer Brust aufgetan hatte...

*** NGE ***

Japsend schoss Shinji Ikari in die Höhe, sah sich mit flackerndem Blick um.

Er befand sich nicht unter Wasser, weder in klarem, noch schwarzem oder blutrotem...

In seiner Nähe war auch kein Monster mit dem Gesicht seiner Mutter oder dem des EVANGELION...

Es gab nur ihn selbst, seinen keuchenden Atem und sein rasendes Herz, welches sich langsam beruhigte.

„Ein Traum... es war nur ein Traum..." flüsterte er leise.

Jetzt endlich nahm er sich die Zeit festzustellen, wo er sich befand.
„Eine unvertraute Decke…"

Er saß in einem Bett mit blütenweißen Laken, das Zimmer, in dem er sich befand, hatte alle Merkmale eines Krankenhauszimmers, vom Linoleumboden bis hin zum Geruch von Desinfektionsmitteln. Der Raum hatte kein Fenster, ein rechteckiger Leuchtkörper unter der Decke erhellte das Zimmer mit sterilem Licht, das einzige Möbelstück neben dem Bett waren ein hüfthoher Schubkastenschrank und ein Stuhl, auf dem ein zusammengefalteter Pyjama lag.

Erst jetzt stellte er fest, dass er nackt war. Jemand musste ihm die Sachen ausgezogen haben...

Seine Haut juckte an den verschiedensten Stellen, eine Überprüfung ergab, dass eine leicht rötliche Flüssigkeit eingetrocknet sein musste, wahrscheinlich diese LCL-Flüssigkeit. Sie bildete krustige Flecken von einer Farbe, die etwas dunkler war als seine Haut. Unwillkürlich begann er sich nach einer Dusche zu sehnen.

Die Erinnerung an den Kampf kam wieder in ihm hoch.

Rasch betrachtete er seinen linken Arm. Seine Augen wurden groß, als er oberhalb des Handgelenkes dicke tiefrote Abdrücke wie von langen Fingern sah. Der Arm ließ sich aber ohne Schmerzen bewegen, auch mit den Fingern gab es keine Probleme.

Vorsichtig taste er über seine Stirn, fühlte eine dicke, schmerzhafte Beule.

Es war also real gewesen... er hatte den EVANGELION bestiegen und in den Kampf gesteuert… - nur an den Ausgang des Kampfes mit dem Engel fehlte ihm jede Erinnerung. Allerdings war die Tatsache, dass er noch am Leben war, wohl ein Zeichen dafür, dass er ihn besiegt hatte. Sicherheit allerdings darüber würde er in diesem Krankenzimmer wohl kaum erhalten.

Der Raum hatte nur eine Tür.

Shinji holte noch einmal tief Atem, schüttelte dann kräftig den Kopf, um die letzten Erinnerungen an seinen Alptraum zu verbannen, bevor er schnell aus dem Bett kletterte, den Pyjama ergriff und sich überzog. Unter dem Stuhl standen ein Paar Krankenhauspantoffeln in seiner Größe, in die er rasch schlüpfte.

Der Aufzug war in seinen Augen nicht optimal, aber immer noch besser, als nackt herumzulaufen.

Langsam ging er zur Tür und zog sie auf.

Auf der anderen Seite lag ein Korridor, der sich nach links und rechts erstreckte. Auf hier gab es keine Fenster, sondern nur die kalten Leuchtkörper unter der Decke.

Shinji trat auf den Gang hinaus, sah in beide Richtungen.

An beiden Enden des Ganges waren breite Schwingtüren.

Von der einen Seite her kam eine Gruppe weißgekleideter Leute mit einer Rolltrage.

Shinji trat bis an die Wand, um sie durchzulassen.

Niemand sprach ihn an, niemand würdigte ihn eines Blickes, überhaupt war es seltsam still, sah man von den klappernden Geräuschen ab, welche die Trage von sich gab, und den hastigen Schritten der Erwachsenen.

Auf der Trage lag das verletzte Mädchen aus dem Hangar... wie hieß sie doch gleich... Rei!

Als die Trage Shinji passierte, hatte er für eine kurze Sekunde Blickkontakt, konnte dem Gesicht des blauhaarigen Mädchens aber nicht entnehmen, ob es ihn wiedererkannte.

Wenigstens schien sie keine Schmerzen zu spüren.

Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, der Trage zu folgen und jemanden anzusprechen, vielleicht sogar das blasse Mädchen, doch dieser Gedanke löste sich in Wohlgefallen auf, als er sah, dass am anderen Ende des Ganges sein Vater stand.

Shinji stand stocksteif da, während Gendo Ikari ihn gar nicht wahrzunehmen schien.

Die Trage wurde auf der Höhe des NERV-Oberbefehlshabers gestoppt, er beugte sich vor, sagte etwas, das Shinji aufgrund der Entfernung nicht verstand. Das Mädchen drehte leicht den Kopf, bewegte die Lippen.

Gendo Ikari sah auf, blickte zu Shinji hinüber, drehte sich dann abrupt um und ging... wie schon so oft.

Und wie jedes Mal zerbrach etwas in der Brust des Jungen.

Kurz hatte er die Hoffnung gehegt, sein Vater würde mit ihm sprechen, ein paar Worte wechseln, nur ein paar, ihm sagen, dass er kein Feigling war, dass er stolz auf ihn war, dass...

„Kein einziges Wort..." murmelte jemand hinter Shinji. „Wie gemein..."

Der Junge wandte sich um.

„Misato-san!"

Die junge Frau lächelte.

„Ich wollte dich abholen."

„Ja."

„Du hast keine schlimmen Verletzungen, nur ein paar blaue Flecken hier und da. - Und natürlich diese dicke Beule auf der Stirn."

„Ja... Ist... ist der Engel... habe ich es geschafft?"

„Du weißt es nicht?"

„Ich... nein... ich kann mich nicht erinnern."

„Hm, vielleicht sollte Ritsuko dich noch einmal untersuchen... Du hast über einen Tag geschlafen. Ah, also, du hast den Engel besiegt."

„Dann... werde ich nicht mehr gebraucht?"

„Shinji-kun, das war nicht der einzige."

„Es... es gibt noch mehr?"

Misato nickte nur.

„NERV hat dir hier im Hauptquartier ein Zimmer vorbereitet. - Du könntest natürlich auch bei deinem Vater wohnen, wenn..."

„Will er das denn?"

Misato blickte Shinji an, sah in dessen traurige Augen.

„Ich weiß es nicht." gestand sie.

„Ich komme wahrscheinlich allein besser zurecht." murmelte der Junge.

Misato sah ihn noch einmal an, sah ein menschliches Häuflein Elend, wo ein selbstbewusster Sieger hätte stehen sollen... aber wo hätte solches Selbstbewusstsein auch herkommen sollen, wenn nicht einmal der eigene Vater ihm zu seinem Sieg gratulierte...

„Warte hier!" entschied sie. „Ich hole deine Sachen aus der Reinigung. Und dann werde ich mich mit deinem Vater unterhalten! Wird nicht lange dauern!"

„Ahm..."

Sie deutete auf eine Reihe Plastikstühle an der Wand.

„Warten!"

„Ja." murmelte er, blickte ihr nach, bis sie durch die nächste Tür verschwunden war und schlurfte dann zu einem der Stühle.

*** NGE ***

Auf der anderen Seite der Welt, in einem großräumigen Büro im Hauptquartier des ODIN-Geheimdienstes in der Arkologie Wilhelmshaven, steckte Wolf Larsen gerade sein Handy zurück in die Jackentasche.

„Und? Gibt es Neuigkeiten?" fragte der ältere Mann, der ihn aus dem Krankenhaus geholt hatte.

„Nein, Sir. Sie ist immer noch nicht aufgewacht. Die Ärzte geben ihr keine große Chance mehr... vielleicht ist es besser so..."

Der grauhaarige Mann erhob sich aus seinem Sessel hinter seinem breiten Schreibtisch, ging um den Tisch herum und legte dem anderen die Hand auf die Schulter.

„Geben Sie nicht auf, das passt nicht zu Ihnen. Wir haben Sie damals auch nicht aufgegeben."

Larsen erwiderte nichts darauf.

Stattdessen machte er einige rasche Handbewegungen, auf welche der andere mit ebenso raschen Gesten zu antworten schien.

*Abhörgeräte?*

*Lüftungsschacht. Lampenschirm.*

*Kameras?*

*Keine.*

„Wolf, ich weiß, es kommt mehr als ungelegen - und glauben Sie mir bitte, ich habe versucht, Einspruch einzulegen - aber Sie haben einen neuen Auftrag."

„Sir, ich kann jetzt nicht weg!"

*Wer?*

„Direktor Cedrick hat Sie und Ihr Team für diese Mission angefordert."

*Himmelfahrtskommando.*

„Was für eine Mission?"

*Decker?*

„Aus einem militärischen Labor der Amerikaner ist ein neuartiger Nano-Virus verschwunden - mitsamt dem Entwickler."

*Arbeitet an der Sache.*

„Verstehe. Was für ein Virus?"

„Einer von der Sorte, der binnen 24 Stunden eine Millionenstadt entvölkern kann. Hoch virulent, aber mit eingeschränkter Lebensdauer, eine taktische Biowaffe. Unsere Nachforschungen haben ergeben, dass sich verschiedene Terrorgruppen für den Virus interessieren. Im kurdischen Bergland ist in einer guten Woche eine große Auktion geplant."

„Ja. Kann ich mir mein Kommando selbst zusammenstellen?"

*Weiß er es?*

„Natürlich."

*Er ahnt etwas.*

„Gut. Ich werde sofort mit den Einsatzvorbereitungen beginnen."

*Ich ebenfalls.*

*Ist Kaji sicher?*

„Ihnen stehen unsere besten Leute zur Verfügung, genau für solche Einsätze wurde ODIN gebildet."

*Ja.*

„Ja, Sir."

Larsen senkte den Blick.

„Versprechen Sie mir nur, dass ich informiert werde, wenn etwas geschieht..."

„Keine Sorge. Unsere besten Ärzte werden sich um ihre Frau kümmern."

„Danke."

Der Mann mit der gelbstichigen Haut kehrte hinter seinen Schreibtisch zurück und schob dem anderen eine Mini-Disk über den Tisch.

„Die Disk enthält alle verfügbaren Informationen."

*Sie haben sich getroffen.*

Jede noch so kleine Geste, jede kurze Bewegung, sei es ein einzelnes Fingerglied, ein Finger oder die ganze Hand, alles hatte zusammen mit den gewechselten Worten eine eigene Bedeutung, die sich nur den beiden Männern erschloss.

„Ich werde sie auf dem Flug nach Istanbul auswerten. Ich nehme an, der Auftrag umfasst nicht nur, den Virus zurückzuholen, sondern auch den Wissenschaftler, sowie die Beseitigung möglichst vieler Käufer."

„Genau, Commander."

„Haben wir Informationen, ob ein anderer Geheimdienst ähnliches plant? Ich möchte nicht schon wieder mit der NSA oder irgendwelchen Doppel-Null-Agenten des MI6 zusammenstoßen, das ganze Kompetenzengerangel ist irgendwo deprimierend."

*SEELEs Reaktion auf den Sieg?*

„Uns ist nicht bekannt. Ich habe auch eine entsprechende Bitte an die Kollegen geschickt."

*Zwiespältig. EVA-01 ist beschädigt.*

„Gut. Betrachten Sie den Auftrag als erledigt."

*Geschieht ihnen recht.*

„Seien Sie vorsichtig. Sie wissen - wenn Sie oder ein Mitglied Ihres Teams getötet oder gefangen werden, wird die Organisation jede Kenntnis von Ihnen oder dem Einsatz abstreiten."

*Kann ich noch auf Sie zählen?*

Larsen trat an das breite Fenster des Büros seines direkten Vorgesetzten, blickte hinaus, sah auf die Grünfläche vor dem Gebäude, blickte dann schräg nach oben zum Himmel, wo sich die Plexiglaskuppeldecke der Arkologie über Wilhelmshaven wölbte und das fast schon arktisch zu nennende Klima von der Stadt fernhielt.

„Das ist nicht die erste BlackOps, die ich leite."

*Ich bin dabei.*

„Passen Sie trotzdem auf sich auf."

*** NGE ***

Misato zögerte kurz, ehe sie an der Tür, hinter der Gendo Ikaris Büro lag, klopfte.

Plötzlich war sie sich gar nicht mehr so sicher, ob ihre Idee wirklich so gut war.

Dann klopfte sie dennoch an.

Es dauerte einen Augenblick, bis von drinnen ein „Herein" kam, es klang nicht gerade freundlich.

Misato presste die Lippen zusammen, drücke das Kreuz durch und betrat Ikaris Büro.

Wie jedes Mal raubte der Raum ihr den Atem - es war kein Raum, sondern eher ein gewaltiger Saal. Decke und Boden zeigten kabbalistische Zeichen und Symbole, an den Wänden hingen Tafeln mit Auszügen aus verschiedenen religiösen Texten: hebräische Bibelzitate, arabische Suren aus dem Koran...

Und mitten in diesem Raum stand der mächtige hufeisenförmige Schreibtisch aus dunkler Eiche, hinter dem Gendo Ikari residierte, die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt, und ihr in seiner typischen Körperhaltung entgegensah, einen Gutteil seines Gesichtes von den gefalteten Händen verborgen, während die Augen hinter der dunklen Brille nicht zu erkennen waren.

Er war nicht allein, bei ihm war Ritsuko Akagi, welche Misato den Rücken zukehrte, als diese eintrat.

Noch einmal schluckte Misato, sie hatte das Gefühl, bei etwas zu stören.

„Colonel?" fragte Ikari nach einem scheinbar endlosen Moment des Schweigens. „Was führt Sie hierher?" Seine Stimme hallte durch den Saal.

Misato wagte ein paar Schritte in das einschüchternde Büro hinein. Hätte man ein paar Wände eingezogen, hätte es genug Platz für eine zehnköpfige Familie zum Leben geboten - mit einem eigenen Zimmer für jeden.

„Kommandant... es geht um Ihren Sohn."

Auf Ikaris Stirn bildete sich eine leichte Furche.

„Was ist mit Shinji?"

„Ich nehme an, Shinji wird bei Ihnen wohnen, Kommandant?"

„Nein, Lieutenant-Colonel Katsuragi. Ich bin die Gesellschaft anderer nicht gewohnt, und er auch nicht."

Misato Katsuragi blinzelte, wagte, dazu einen Kommentar abzugeben.

„Aber er ist Ihr Sohn..."

„In erster Linie ist er der Pilot von Einheit-01. Es ist besser so."

Die Stimme des bärtigen Mannes deutete darauf hin, dass er dieses Thema nicht weiter zu diskutieren wünschte.

„Dann bitte ich um die Genehmigung, ihn bei mir aufnehmen zu dürfen."

Ikaris Brauen wanderten nach oben, verrieten seine Überraschung.

„Sie wollen sich um ihn kümmern?"

„Er ist neu in Tokio-3, er kennt hier niemanden."

„Hm... Ihr Vorschlag hat seine Vorteile, so können Sie ihn im Auge behalten."

„Kommandant, ich..."

„Ich genehmige Ihr Ersuchen. Sie können ihn mitnehmen, wenn er aus dem Lazarett entlassen wurde. Doktor Akagi wird sich um die nötigen Unterlagen und Genehmigungen kümmern."

Ritsuko, die bisher unbeteiligt neben dem Schreibtisch gestanden hatte, zuckte heftig zusammen, nickte dann.

„Sie werden über sein Verhalten Bericht führen – die Berichte gehen direkt an mich."

„Danke, Kommandant."

Katsuragi ging zwei Schritte rückwärts, aus irgendeinem Grund wollte sie dem Kommandanten hier, in der Höhle des Löwen, nicht den Rücken zuwenden. Doch dann zögerte sie.

„Ist noch etwas, Lieutenant-Colonel?"

„Was ist mit Rei? Ich könnte mich auch um sie kümmern."

Ikaris Stimme war eiskalt, verdeutlichte Misato, dass sie im Begriff war, mit beiden Händen bis zu den Schultern in ein Wespennest zu greifen.

„Rei ist nicht Ihre Angelegenheit. Sie können gehen, Lieutenant-Colonel Katsuragi."

„Ja, Sir."

Sie salutierte knapp, ehe sie das Büro mit einer Geschwindigkeit verließ, die nur sehr knapp nicht die Bezeichnung ´fluchtartig´ verdiente...

Als der Eindringling sein Büro verlassen hatte, atmete Ikari tief durch.

„Gendo", flüsterte Akagi. „Was ist mit Rei? – Ich kenne ihren körperlichen Zustand, soweit mir der Vergleich mit der menschlichen Physis möglich ist, aber…"

„Das ist völlig unbedeutend." erwiderte er unwirsch. Dann, etwas leiser, etwas freundlicher: „Mach weiter…"

*** NGE ***

Shinji wartete immer noch dort, wo Misato ihn zurückgelassen hatte. Als sie ihn ansprach, blickte er auf.

„Hier."

Sie reichte ihm seine Sachen, die sie wie versprochen aus der Reinigung geholt hatte, dann checkte sie den nächsten Raum ab.

„Da ist niemand drin, du kannst dich dort umziehen."

Kommentarlos verschwand er in dem Zimmer, kehrte kurz darauf umgezogen zurück.

„Was jetzt?"

„Jetzt fahren wir zu mir."

„W-wie?"

„Dein Vater hat gerade genehmigt, dass du bei mir einziehst, damit jemand dich besser im Auge behalten kann."

Sie zwinkerte.

„Also, los, ich denke, das muss gefeiert werden, oder?"

„Ah... uhm... so ganz, ohne mich zu fragen?"

Sie verdrehte die Augen.

„Los, jetzt setz dich in Bewegung, oder willst du deinem vorgesetzten Offizier widersprechen?"

*** NGE ***

Misatos Wagen war in einem deutlich besseren Zustand als zu dem Zeitpunkt, als sie ihn nach der Ankunft im Hauptquartier in der Bahnstation zurückgelassen hatten, was sie freudestrahlend zur Kenntnis nahm.

„Ich könnte die Mechaniker, die mein Baby wieder hergerichtet haben, küssen!" verkündete sie, ehe sie sich hinter das Steuer schwang. An der Sonnenblende hing sogar ihre Sonnenbrille, deren Bügel wieder geradegebogen waren. „Steig schon ein!"

Shinji saß noch nicht richtig auf dem Beifahrersitz, da gab sie schon Gas. Die Beifahrertür schlug beim Anfahren von selbst zu.

Zurück blieben zwei Mechaniker, die auf Misatos Worte hin freudestrahlend herbeigeeilt waren, sich jetzt aber enttäuscht anblickten.

Der blaue Wagen fuhr durch einen langen kurvigen Tunnel, der schließlich an der Oberfläche am Stadtrand mündete. Anstatt in die Stadt hineinzufahren, fuhr Misato auf einer Serpentinenstraße durch die Hügel.

Shinji blickte auf die Stadt. Die Schäden, die während des Kampfes entstanden waren, waren deutlich zu erkennen. Überall waren Konstruktionstrupps unterwegs.

„Misato-san..."

„Ja?"

„Uhm... Was ist mit dem Mädchen? Ich meine... äh... Rei..."

„Rei... Ach, du meinst Rei Ayanami, deine Kollegin... was soll mit ihr sein?" fragte Misato aus-weichend. Die Reaktion des Kommandanten, als sie über Rei hatte sprechen wollen, steckte ihr immer noch in den Knochen.

„Ja, uhm, was ich sagen wollte - wie geht es ihr?"

Misato seufzte.

„Sie kommt durch."

„Ist sie schwer verletzt?"

Sie nickte.

„Aber das war nicht allein der Engel, die meisten - und schweren - Verletzungen stammten von einem Unfall vor ein paar Wochen."

„Uhm... was ist zwischen ihr und... meinem Vater? Ich meine, ich habe gesehen, wie..."

„Ich weiß es nicht."

Misato hob die Schultern. Dann wurde sie plötzlich knallrot.

„Äh... aber die beiden haben nichts miteinander, ich glaube, das dürfte sicher sein... ich meine, man kann über den Kommandanten wohl einiges sagen, aber mit Kindern..."

Shinji starrte sie an, lief ebenfalls rot an.

„Ah... Nein, das... das meinte ich gar nicht."

„Oh. Gut."

Misato lachte verlegen.

„Gut. Ja. Okay. Dann vergessen wir das ganz schnell wieder, ja? - Also, ehrlich, ich weiß selbst nicht genau, warum er sich ihr gegenüber so verhält. Laut meinen Unterlagen ist der Kommandant Reis gesetzlicher Vormund, aber sie wohnt nicht bei ihm."

„So."

Shinji kniff die Augen zusammen.

Einen Moment lang hatte er geglaubt, den Grund für das abweisende Verhalten seines Vaters zu kennen...

Unvermittelt hielt Misato an.

„Misato-san, was ist?"

Der Wagen stand an einem Aussichtspunkt.

Misato warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

„Genau richtig... Ich will dir ´was zeigen!"

Sie stieg aus, ging zu dem Metallgeländer an der Hügelkuppe.

Shinji folgte ihr, stellte sich neben sie.

Es dämmerte bereits.

Von ihrem Standort aus hatten sie einen uneingeschränkten Blick auf die Stadt, eine Stadt, die während des Kampfes tiefe und schwere Wunden davongetragen hatte.

„Wa-warum zeigen Sie mir das? So viele zerstörte Gebäude..."

„Wart´s ab!"

Sirenen heulten auf.

Shinji sah sich erschrocken um, rechnete bereits mit dem Auftauchen eines weiteren Engels.

„Kein Grund zur Panik." erklärte Misato. „Schau..."

Sie deutete auf die Stadt.

Dort bewegte sich etwas.

An zahlreichen leeren Plätzen, die Shinji erst jetzt auffielen, öffneten sich Tore im Boden, die Einblick in tiefe Schächte gaben. An anderen Stellen kam Bewegung in Schutt und Trümmer.

Aus den Schächten schoben sich rechteckige Gebilde, die langsam weiter und weiter wuchsen, schließlich als Gebäude zu erkennen wurden.

„Die... die Gebäude wachsen aus dem Boden...!"

Binnen Minuten verwandelte sich das Trümmerfeld in eine leuchtende Metropole.

„Ja. Das ist das wahre Tokio-3, die Stadt, die du heute gerettet hast. Dies ist die Festungsstadt, wo der Angriff der Engel aufgehalten wird, die letzte Verteidigungslinie der Menschheit."

„Das..."

Gebannt blickte er auf die jetzt hell erleuchteten Straßenzüge und Plätze, welche sich allmählich mit Menschen zu füllen begannen.

Seine Augen wurden feucht.

„Misato-san... ich habe das nicht für die Menschen getan... auch nicht für das verletzte Mädchen, als ich in den EVA stieg..."

„Ich weiß. Shinji-kun, ich weiß. Und ich weiß, dass ich nicht ganz die richtige Person bin, um es dir zu sagen, aber... das hast du großartig gemacht. Du hast dich phantastisch geschlagen."

Shinji schluckte.

Dann brachen die Tränen durch.

Wie sehr hatte er sich gewünscht, diese Worte von seinem Vater zu hören...

Misato legte ihm sacht die Hand auf die Schulter.
„Und noch eins: Danke. Ich danke dir."

Kapitel 05 - Mitbewohner

Der Apartmentgebäudekomplex, in dem NERV-Lieutenant-Colonel Misato Katsuragi wohnte, war ein moderner zwölfstöckiger Neubau mit einem Dutzend Wohnungen pro Etage, entsprechend pompös fiel bereits das Klingelschild am Eingang aus, welches Shinji studierte, während Misato in den Taschen ihrer Jacke nach dem Haustürschlüssel suchte. Ihm fiel auf, dass die meisten Wohnungen leer standen, nur etwa 10% des Hauses waren bewohnt.

Katsuragis Wohnung lag im vierten Stock; während Shinji die Treppen hochschlurfte, lief sie vor ihm die Stufen hoch, als machte sie dies jeden Tag. Doch er beschwerte sich nicht, zum einen war ihm bereits der Aufzug aufgefallen, mit dem das Gebäude ausgestattet war, zum anderen hatte er einen recht guten Blick auf ihre langen Beine in Bewegung.

An der Wohnungstür angekommen, wiederholte sich die Suche nach dem Schlüssel.

„Shinji-kun, ich hoffe, ein wenig Unordnung macht dir nichts aus, ich bin selbst gerade erst eingezogen und noch nicht dazugekommen, alles auszupacken. Also - sei nachsichtig, ja?"

„Uhm... okay, Misato-san."

„Und hör auf, mich zu siezen, schließlich sind wir jetzt Mitbewohner!"

„Ah... ja, gut."

Die Wohnungstür schwang auf und Misato Katsuragi betrat ihre Wohnung, während Shinji an der Schwelle stehenblieb, einen irgendwie hilflosen Ausdruck auf dem Gesicht.

„Shinji-kun, was ist denn?"

„Ich… ahm… ich möchte nicht zur Last fallen… und mich nicht aufdrängen." stieß er mit gesenktem Blick hervor.

„Na, nun komm aber – du wohnst ab sofort hier! Mi casa es su casa, wie sie in Spanien sagen."

„Ah… was?"

„Mein Haus ist dein Haus. Du kannst hier alles benutzen – mit Ausnahme von mir!" Sie lachte und zwinkerte ihm zu.

„Nun, dann…" Shinji hob einen Fuß, setzte ihn über die Schwelle. Der andere folgte. „Dann…" Er schluckte, sprach dann landesüblichen Gruß aus, wenn man nach Hause kam. „Tadaima."
Ich bin daheim.
Er sah sich um - und Shinji, dessen Bild man im Lexikon unter dem Begriff ´penibler Ordnungswahn´ hätte finden können, so es solch einen Eintrag gegeben hätte, hätte am liebsten wieder kehrtgemacht.

Was Misato unter ein wenig Unordnung verstand, hätten nach Shinjis Ansicht selbst der Engel und EVA-01 nicht ausrichten können, hätte sie ihr Kampf zufällig durch eben dieses Apartment geführt. Die gestapelten Umzugskartons fielen dabei gar nicht ins Gewicht, auf diese war er schließlich vorbereitet gewesen, allerdings lag deren Inhalt teilweise über den Boden verstreut, hingen Kleidungsstücke, welche eigentlich in Schränke und Schubladen gehört hätten, über Stuhllehnen, standen die Reste mehrerer Mahlzeiten auf dem Tisch und sammelte sich weiteres Geschirr in der Spüle.

Vorsichtig schielte er zu Misato hinauf, die sich an dem Chaos nicht zu stören schien, fragte sich, weshalb gerade er an die wahrscheinlich einzige Frau in Tokio-3 ohne auch nur minimalen Ordnungssinn geraten war.

„Ist doch ganz nett hier, oder? Das war jedenfalls mein erster Gedanke, als der Hausverwalter mir die Wohnung gezeigt hat - da waren selbstverständlich noch keine Möbel hier, aber..."

Shinji schaltete für einen Augenblick ab.

In diesem Chaos sollte er wohnen?

Hier musste erst einmal jemand kräftig aufräumen, saubermachen und generell Ordnung schaffen! - Und mit einer die folgende Erkenntnis begleitenden leichten Depression kam er zu dem Schluss, dass er wohl dieser jemand sein würde...

„Ja, uhm, ganz... nett hier." murmelte er, während er seine Reisetasche abstellte, die Schuhe auszog und dann vorsichtig auf Zehenspitzen durch den Vorraum navigierte.

An diesen schloss sich ein L-förmiger Raum an, der gleichzeitig als Ess- und Wohnraum, wie auch als Durchgang zum Rest der Wohnung diente, in einer eigenen Nische standen Herd, Spüle und Vorratsschrank und Kühlschrank, in der Mitte des großen Zimmers befand sich der Esstisch mit besagten Resten früherer Mahlzeiten, an einer Wand stand ein Sofa, diesem gegenüber ein kleiner Fernseher. Von dem Raum selbst ging eine Tür, von der korridorartigen Verlängerung drei weitere ab, am Ende des Flures befand sich schließlich noch eine Glastür, die auf den zum Apartment gehörenden Balkon hinausführte.

Misato deutete auf jede der vier Türen.

„Mein Schlafzimmer. Dort drüben ist das Bad, die beiden hinteren Räume habe ich noch nicht richtig eingerichtet, aber im rechten steht ein Gästebett, das kannst du erst mal nehmen - fall nur nicht über meine Kartons, ja? -, morgen lässt der NERV-Quartiermeister dir ein paar eigene Möbel bringen, die haben da einen riesigen Fundus, frag mich bloß nicht, weshalb oder woher das ganze Zeug stammt, das unterliegt wahrscheinlich oberster Geheimhaltungsstufe, oder so."

Wieder einmal zwinkerte sie und verdeutlichte ihm damit, dass sie ihre letzten Worte nicht ganz so ernst gemeint hatte. Dann verschwand sie in ihrem Zimmer.

„Möchtest du etwas trinken? Im Kühlschrank müsste im obersten Fach noch eine Soda sein."

„Uhm, ja."

Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er zum letzten Mal etwas vor seiner Abfahrt nach Tokio-3 gegessen hatte. Seine Kehle war trocken und sein Magen knurrte anscheinend laut genug, dass auch Misato es hören konnte.

„Ich mache uns gleich ´was zu Essen. Ach ja, wenn du schon am Kühlschrank bist, dann bring mir doch bitte ein Bier mit, ja?"

Shinji trat an den Kühlschrank heran und öffnete ihn, sah hinein. Schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Blickte erneut in den Kühlschrank.

Er hatte sich nicht geirrt.

Der Kühlschrank, alle fünf Fächer, war voller Bierdosen. Eine Dose reihte sich an die andere.

Dann bemerkte er den Haufen leerer Dosen im wirklich geräumigen Abfalleimer, welcher bis obenhin gefüllt war. Dann sah er die Reihe von leeren Dosen, die auf dem Regal über der Spüle standen wie Trophäen.

Nach kurzer überschlagsmäßiger Rechnung kam er zu der Feststellung, dass Misato Katsuragi sich höchstwahrscheinlich nur von Bier ernährte - und dass sie angesichts mangelnder auffälliger Ausfallserscheinungen wahrscheinlich kaum noch Blut im Alkohol hatte.

Im obersten Fach des Kühlschrankes befand sich tatsächlich eine Dose mit Soda, sowie eine angebrochene Dose Cola. Er nahm erstere, sowie eine Bierdose, stellte diese auf den Tisch und öffnete seine Dose, leerte sie in zwei großen Schlucken.

„Ahm, das Bier steht auf dem Tisch."

„Gut, danke!" kam es von der anderen Seite der Schiebetür. „Du kannst gerne das Bad benutzen, es dauert noch einen Moment, bis ich etwas koche."

„Äh, ja."

Eigentlich hätte er viel lieber den Müll ´runtergetragen, das Geschirr abgewaschen und den Tisch aufgeräumt, oder wenigstens seine Sachen ausgepackt, allerdings juckte seine Haut mittlerweile geradezu unerträglich. Also holte er seine Reisetasche mit seinen Sachen und ging mit dieser ins Bad, da er Misatos Worten glaubte entnehmen zu können, dass er seine Sachen ohnehin mangels entsprechender Möbel noch nicht verstauen konnte.

Er platzierte die Tasche auf dem Toilettendeckel, zog dann Hemd und Hose aus.

„Wark!"

Shinji zuckte derart heftig zusammen, dass er die Tasche zu Boden warf.

„Wark!"

Vorsichtig drehte er sich um, nur noch mit seiner Unterwäsche bekleidet.

In der Badewanne stand ein großer Vogel und blickte ihn durchdringend an.

Mit einem Schrei ergriff Shinji die Flucht, stoppte erst in der Küchennische.

Dass der Vogel gleichzeitig ein nicht minder entsetztes „Wark!" von sich gab und dabei aus der Wanne auf die Waschmaschine hüpfte, bekam der Junge gar nicht mehr mit.

„Was ist denn los?" fragte Misato und schob ihre Tür auf, nur bekleidet mit kurzen Jeanshosen und einem unter den Brüsten zusammengeknoteten Hemd.

Doch dafür hatte Shinji jetzt keinen Blick, mit zitternder Hand deutete er auf die Badezimmertür.

„D-d-da... da drinnen..."

„Ja, was denn?"

Das Objekt von Shinjis Schrecken entschloss sich in diesem Augenblick, das Bad zu verlassen und - ein geblümtes Handtuch über die Schultern geworfen - in den Hauptraum zu watscheln.

„Wark!"

Misato blickte überrascht Shinji an, dem der Schrecken immer noch ins Gesicht geschrieben stand, dann fing sie an zu kichern.

„Shinji-kun, das ist PenPen. PenPen - Shinji, unser neuer Mitbewohner."

„Wark!"

Der große Vogel hob grüßend einen Flügel, dann verschwand er rasch in dem zweiten Kühlschrank und zog die Tür hinter sich zu.

„Das... das ist... ein..."

„Ein mutierter Warmwasserpinguin. Nachdem beim Second Impact ihr Lebensraum in der Antarktis völlig zerstört wurde, wurden ein paar von ihnen umgesiedelt. Keine Angst, PenPen tut keinem ´was."

„Aaaaah-jaaaaaa..." sagte Shinji langgezogen, den das dumme Gefühl beschlich, dass die ihm präsentierte Kurzfassung vielleicht wirklich etwas kurz war.

„Ich hätte dich vorwarnen müssen, entschuldige. Aber das Bad sollte jetzt wirklich frei sein."

„J-ja..."

*** NGE ***

Frisch gewaschen und eingekleidet fühlte sich Shinji Ikari schon deutlich besser.

Wahrscheinlich war das auch der Grund, dass er den nächsten Schock, welcher im Katsuragi-Haushalt auf ihn wartete, bei halbwegs klarem Verstand überstand.

Misato hatte tatsächlich den Tisch abgeräumt - auch wenn dies nur bedeutete, dass der Geschirrstapel in der Abwäsche um ein weiteres Stück gewachsen war.

Auf dem Tisch standen drei Tüten mit Instant-Curryreis, in welche Misato gerade heißes Wasser goss.

„Ah, du kommst gerade richtig. Essen ist fertig, guten Appetit!"

Shinji war nach Heulen zumute. Das Zeug im Inneren der Tüte hatte die gleiche Farbe wie selbige, als er probeweise mit dem Löffel umrührte, spürte er beträchtlichen Widerstand. Das Instantgericht hatte zudem die Konsistenz von nasser Pappe, was Shinji wiederum an die LCL-Flüssigkeit erinnerte, mit der er heute erstmals in Kontakt gekommen war.

Mit gleichsam kritischen, wie verzweifelten Blick beäugte er die zähflüssige Masse auf dem Löffel, glaubte tatsächlich, einzelne Reiskörner zu erkennen.

Misato hingegen schien das nichts auszumachen, nachdem sie ihr erstes Bier in einem Zug geleert hatte, holte sie ein ganzes Sechserpack aus dem Kühlschrank, goss in die beiden anderen Tüten jeweils eine Dose und rührte kräftig um. Den Inhalt der einen Tüte wiederum goss sie in einen Futternapf, der im Schatten von PenPens Kühlschrank stand, klopfte gegen die Kühlschranktür und erklärte: „Es ist angerichtet!"

Und während der Pinguin herausgewatschelt kam und sich heißhungrig über seine völlig artuntypische Mahlzeit hermachte, schaufelte Misato selbst ihr Curryreis-Bier-Gemisch in sich hinein.

Zwischen zwei Happen bemerkte sie, dass Shinji immer noch zweifelnd den Löffel anblickte.

„Kannst du ruhig essen, ist super lecker! Oder möchtest du auch ein Bier?"

„Nein, danke." beeilte er sich. Er hatte an seinem zwölften Geburtstag seine erste Erfahrung mit Alkohol gemacht, die ihn gelehrt hatte, dass Alkohol und er nicht so richtig zusammenpassten.

Zaghaft führte er den Löffel zum Mund.

Das Zeug sah nicht nur aus wie feuchte Pappe, es schmeckte auch so, vielleicht war es sogar der Grundstock, der zur Herstellung dieser LCL-Flüssigkeit benötigt wurde...

Wieder knurrte sein Magen. Die befürchtete Übelkeit allerdings blieb aus. Also ergab er sich in sein Schicksal und löffelte die Tüte mit dem Instantgericht tapfer leer.

Danach verspürte er den Drang, sich kräftigst die Zähne zu putzen, um den Geschmack loszuwerden, während Katsuragi und ihr seltsames Haustier einander mit Bierdosen zuprosteten...

Und danach kam Misato auf die Idee, mittels Schere-Stein-Papier zu entscheiden, wer wann welche Haushaltspflichten zu erledigen hatte. Anscheinend war sie die heimliche Landesmeisterin in diesem Kinderspiel, dies ging jedenfalls aus dem Haushaltsplan hervor, der als für die einzelnen Pflichten - Frühstück, Abendessen, Müll rausbringen, Einkaufen und Wäschewaschen - zuständig zu gut 90% Shinji auswies.

Mit einer entsprechenden Depression ging er schließlich zu Bett, zog sich die von Misato zur Verfügung gestellte Wolldecke über den Kopf und schlief schließlich ein.

*** NGE ***

Am nächsten Morgen wurde er von einem lauten Juchzen aus den Schlaf gerissen.
Noch halb benommen registrierte er seine Umgebung – die nächste (noch) ungewohnte Zimmerdecke, der Blick aus dem Fenster auf eine (noch) fremde Stadt. Dann kamen in ihm die Erinnerungen an den Vortag wieder hoch und brachten die Erkenntnis mit sich, dass es kein schlechter Traum gewesen war. Immer noch schlaftrunken taumelte er ins Esszimmer, um nach dem Rechten zu sehen, doch es war nur Misato, welche ihr erstes Bier an diesem Tag geöffnet hatte.

„Einen wunderschönen guten Morgen, Shinji-kun!" rief Misato in denkbar bester Laune. „Hast du gut geschlafen? Ich wollte dich nicht wecken, deshalb habe ich das Frühstück gemacht!"

Er erinnerte sich wieder an den Plan, auch daran, dass er sich eigentlich um das Frühstück hätte kümmern sollen.

„Gomen." stieß er hastig hervor. - Es tut mir leid.

„Ach, macht doch nichts, ich muss ohnehin in einer halben Stunde zum Dienst und wollte dir schnell noch einiges erklären, aber iss doch erst mal etwas!"

Auf dem Tisch stand ein Teller mit mehreren Scheiben Toast, welche aussahen, als wären sie mit knapper Not einem Großbrand entkommen. Misato hatte es erneut geschafft, Shinji zu überraschen, er hätte nie geahnt, dass Toastbrot derart schwarz verbrannt aussehen konnte. An diesem Morgen fasste er den Entschluss, sich künftig selbst um das Essen zu kümmern, da er, so er sich in dieser Beziehung auf Misato verließ, wohl völlig verlassen war. Es hätte ihn auch nicht mehr gewundert zu erfahren, dass sie imstande war, Wasser anbrennen zu lassen...

„Worum geht es, Misato?" fragte er und machte ein halbwegs interessiertes Gesicht, um von den Toastscheiben abzulenken.

„Oh, ach ja. Also, gegen elf kommt der Spediteur, du weißt sicher schon, welches der beiden Zimmer du willst, oder? Schieb die Kartons einfach in das andere hinüber, das Bett lässt sich zusammenklappen und kann dann auch ´rübergerollt werden. Der Quartiermeister hat mir versprochen, dass das Zeug aufgebaut wird. Dann ist unten an der Ecke ein kleiner Laden, sei doch bitte so gut und hole im Laufe des Tages meinen Nachschub ab."

Shinjis Blick folgte dem Misatos zu der nächsten Reihe leerer Bierdosen auf dem Board, von welchen Shinji hätten schwören konnte, dass sie am Vorabend noch nicht dort gestanden hatten.

„Im Vorratsschrank steht rechts oben ein Marmeladenglas mit Geld, falls du ein paar Einkäufe erledigen willst. Curryreis scheint ja nicht ganz so dein Geschmack zu sein."

„Ähm..."

„Ist nicht tragisch – bleibt mehr für mich! - Gut, was noch... Oh, ja, ich melde dich heute Nachmittag in der Schule an."

„Schule?" echote er.

„Ja, natürlich. Schließlich bist du noch im schulpflichtigen Alter!"

„Ich... ich meine... es gibt in Tokio-3 eine Schule? Mit Kindern? - in meinem Alter?"

„Sicher. In Tokio-3 wohnen zwar fast nur NERV-Angehörige und Leute, die die Infrastruktur aufrechterhalten oder für unsere Zulieferer und Subunternehmer tätig sind, aber die haben auch Familie. So gut ist Ritsuko noch nicht, dass sie auch das abschaffen könnte - hoffe ich jedenfalls."

„Äh..."

„Das war ein Scherz, Shinji-kun. Du kannst ruhig etwas lockerer sein."

„Äh..."

„Gut, gut... ich erklär´s dir, ja? Ritsuko hat die EVAs geschaffen, hat diese riesigen Biester regelrecht im Reagenzglas gezüchtet - muss wohl ein recht großes Reagenzglas gewesen sein, wenn du mich fragst - und dann in dieser LCL-Nährflüssigkeit wachsen lassen. Ja, da staunst du, was? Dieses LCL ist wirklich recht vielseitig, nur der Geschmack... wenn es nach Bier schmecken würde... Aber mehr Ahnung habe ich davon auch nicht... hm..." Sie sah auf die Uhr. „Ich muss los! Neben dem Telefon liegt ein Notizblock, da steht unter anderem auch die Nummer drauf, unter der mein Pieper zu erreichen ist, falls es Schwierigkeiten geben sollte. Okay? Also, bis heute Abend. Und nicht vergessen - gegen elf kommen die Möbel!"

Damit ließ sie ihn allein inmitten des Chaos.

Shinji sah sich vorsichtig um, nahm jede Ecke und jeden Winkel der Kombination aus Wohnzimmer, Essraum und Küche unter die Lupe, zog in Gedanken eine Linie, welche den Flurbereich vom Hauptraum abgrenzte, und stand dann langsam auf, nahm den Teller mit den schwarzen Etwas, das früher einmal wehr- und ahnungslose Weißbrotscheiben gewesen waren, und schüttete die Toastscheiben in den Abfallbehälter.

Dann ging er ins Bad, wusch sich, kleidete sich an und nahm Misatos Vorräte an Reinigungsmitteln in Augenschein...

*** NGE ***

Als Misato am Abend nach Hause kam, die Tür hinter sich zuwarf, ihre Schuhe in die Ecke kickte und ein fröhliches „Taidama!" rief, um anzuzeigen, dass sie zurück war, staunte sie nicht schlecht über den Zustand der Wohnung - alles war blitzsauber und blankpoliert, auf dem Boden befand sich kein Stäubchen, sogar der widerstandsfähige Flecken, den eine umgestürzte Tüte Instand-Curryreis vor ein paar Tagen im Teppich hinterlassen hatte, war verschwunden.

„Hui, Respekt!" murmelte Misato in der Erkenntnis, dass sie sich einen richtigen Putzteufel zum Mitbewohner auserkoren hatte. Sie holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, wo sogar die Dosen alle so standen, dass die Etiketten nach vorn zeigten, registrierte, dass sich in einem der Fächer Gemüse und andere Nahrungsmittel, die definitiv nicht unter die Spalte Fertiggerichte fielen, befanden, ging dann, die Dose in der Hand, ins Bad, stellte auch hier fest, dass alles glänzte und blitzte, trat wieder auf den Flur.

„Shinji-kun, wo steckst du?"

In diesem Moment öffnete sich PenPens Kühlschrank und der Pinguin riskierte einen Blick hinaus, ob der neue Mensch, der nun auch in dem Apartment lebte, seine Nestreinigungsaktion endlich beendet hatte...

Misato ging den Flur hinab, sah in das offenstehende Zimmer zur Rechten.

Dieses war nun mit einem breiten Kleiderschrank, einem Schreibtisch samt Stuhl, einem Nachtschränkchen und einem Bett eingerichtet. Und auf letztem lag Shinji ausgestreckt und schnarchte.

Misato lächelte.

„Hm, das hat er sich nach all der Arbeit wohl verdient. Gut, ich mache das Abendessen."

Obwohl Shinji eigentlich tief und fest schlief, schrillten in seinem Kopf sämtliche Alarmsirenen los. Seine Augenlider klappten hoch.

„Misato?" murmelte er.

„Ja?"

„Ich koche."

Pressesplitter:

„Außerirdische greifen Japan an!"
(Britische Klatschpresse)

„… wurde die Festungsstadt Tokio-3 gestern von einer anscheinend außerirdischen Kreatur angegriffen. Die Ostarmee unter General Takashima überließ die Verteidigung schließlich den anwesenden UN-Truppen und der UN-Organisation NERV…"
(Pressemitteilung der japanischen Regierung)

„Erster Einsatz des EVANGELION erfolgreich! – Feind besiegt! – Zahlreiche Verletzte unter der Zivilbevölkerung!"
(Osaka Abendnachrichten)

„… wie uns aus gut informierter Quelle zugetragen wurde, befürchtet man in Japan weitere Angriffe der als ‚Engel' bezeichneten Fremden. Aus diesem Grund wurde das deutsche Fliegerass, Asuka Langley, mit vierzehn Jahren die jüngste Absolventin der UN-Akademie und designierte Pilotin der EVANGELION-Einheit-02, zu Unterstützung angefordert…"
(Deutsche Klatschpresse)

„… verurteilte Kardinal Vinzenzo, der Sprecher des Vatikans, die Bezeichnung des in Japan erschienenen fremden Wesens als ‚Engel' aufs schärfste. Eine derartige Kreatur als ‚Engel' zu bezeichnen sei den Worten des Kardinals nach ein großes Sakrileg…"
(Römische Tageszeitung)

Abspann:
Fly me to the moon and let me play among the stars

Let me see what spring is like on Jupiter and Mars

In other words, hold my hand

In other words, darling, kiss me

Fill my heart with song and let me sing forevermore

You are all I long for, all I worship and adore

In other words, please be true

In other words, I love you...

Vorschau:
Shinji Ikari hat sich seinen ersten Schultag in Tokio-3 sicher anders vorgestellt – neue Freunde und Feinde erwarten ihn! Und als ein weiterer Engel erscheint, steht er vor einer schweren Entscheidung!

Und natürlich: Mehr Fanservice!

Omakes:
I.

- Achtung, dies ist eine Parodie und daher teilweise extrem OC -

Shinji Ikari starrte das verletzte Mädchen in seinem Arm an. Mit der Hand, mit der er den Rücken der Unbekannten stützte, ertastete er klebriges Blut. Ehe sie bewusstlos geworden war, hatte sie seinen Namen geflüstert – sie kannte ihn…
Während er sich ganz auf seine neue „Bekanntschaft" konzentrierte, bemerkte er, dass Misato Katsuragi neben ihm in die Hocke ging.
„Rei braucht einen Arzt!" rief sie besorgt nach oben. Dann sagte sie leiser zu Shinji. „Ich nehme sie dir ab, mach dir keine Sorge, ich kümmere mich um sie."
Er schüttelte den Kopf, sah nach oben zu seinem Vater.
„Ist das die Alternative? Entweder steige ich in deinen Roboter oder sie? – Sie kann es nicht. Und ich tue es auch nicht!"
Von der Kraft seines plötzlich gewachsenen Rückgrades angetrieben, platzierte er den anderen Arm unterhalb von Reis Knien und hob sie hoch.
„Was tust du…?" fragte Gendo Ikari und zum ersten Mal hörte Misato Katsuragi in der Stimme des Kommandanten Unsicherheit. Zugleich wurden die Erdstöße heftiger, welche die Geofront erschütterten.
„Ich bringe sie zu einem Arzt, am besten zu einem, der nicht in diesem Irrenhaus arbeitet. Steig gefälligst selbst in deinen Roboter, Vater!"
Ikaris Hände krampften sich um das Geländer vor ihm.
„Katsuragi…"
„Ich kann keinen EVANGELION steuern, das hat Ritsuko schon bestätigt!" bellte der Captain zurück.
„Halten Sie ihn auf!"
„Verstanden, Sir!"
Da kam zwischen ihr und den Kindern die Decke hinab und hinderte sie daran, zu dem Jungen aufzuschließen und ihn gegebenenfalls am Kragen zu packen und in den EntryPlug des EVANGELIONs zu stopfen.

Gendo Ikari schaltete die Sprechverbindung zur Zentrale ein.
„Fuyutsuki, wir haben wir Problem."

„Das kannst du laut sagen, Ikari! Der Engel zerschmettert gerade das erste Panzerschott des Schachtes."

„Rei ist funktionsunfähig. Shinji… wird Einheit-01 nicht steuern."

„Dann bleibt uns nur noch das Äußerste."

„Wir müssen IHN einsetzen."

Fuyutsuki keuchte. „Ikari, bist du dir ganz sicher? ER ist doch eigentlich unsere letzte Trumpfkarte, falls das Komitee…"

„Alter Freund, wir haben keine andere Wahl – wir müssen Internet-Chuck Norris einsetzen."

„Gott helfe uns…"
Fuyutsuki schloss die Augen.
„Ich leite alles in die Wege."

In den Tiefen des TerminalDogmas öffneten sich die gewaltigen Türen einer noch gewaltigeren Kammer. Eisige Luft entwich in weißen Wölkchen. In der Kammer brannte kein Licht und doch war es nicht dunkel darinnen, als hätte die Dunkelheit Angst davor, mit IHM allein zu sein.
Mit donnernden Schritten verließ ein breiter Schatten die Kammer.

„ER ist bereit." vermeldete Ritsuko Akagi.

„Schick ihn über Route 9 nach oben, der Aufzug endet direkt neben dem Schacht."

„Verstanden."

„Sie haben freie Hand. Halten Sie den Engel auf." drang Ikaris Stimme aus dem Lautsprecher im Hangar.

„Bestätige." brummte eine dunkle Männerstimme.

An der Oberfläche malträtierte der kopflose Gigant weiter das erste Panzerschott, das den zentralen Schacht verschloss. Jeder Schlag sandte Erschütterungen durch die Stadt.
Direkt neben ihm öffnete sich das Ausgangstor eines der über das Gelände verteilten Aufzüge. Aus der Öffnung schoss eine menschliche Gestalt, im Vergleich zu dem Engel ein Staubkorn. Die ihn tragende Energie reichte aus, um bis auf Hüfthöhe des Engels geschleudert zu werden. Die winzige Gestalt drehte sich in der Luft, stürzte von schräg oben auf das linke Kniegelenk Satchiels zu.
Der Engel kreischte vor Schmerzen auf, als der Einschlag sein Knie zerschmetterte.
Die winzige Gestalt stieß sich ab und flog bereits wieder durch die Luft, während der Gigant zur Seite kippte, beim Versuch, sich abzustützen, ein Gebäude zum Einsturz brachte. Schon kam der Winzling wieder in Reichweite.
Satchiel schlug nach ihm.
Der Winzling hielt sich an der Hand des Engels fest, brach ihm mit einem Roundhousekick den Daumen, turnte am Arm des Giganten hinauf, stieß sich erneut ab, flog nun direkt auf das Vogelgesicht mitten auf der Brust des Kolosses zu. Sein erster Faustschlag erzeugte Risse im AT-Feld des Engels. Der Schlag mit der zweiten Faust brachte es zum Zusammenbruch. Dann schlug er mit seiner dritten Faust – der hinter seinem Bart – zu und zerschmetterte Schädel und Kern des Engels.

„Vernichtung des Engels durch Internet-Chuck Norris bestätigt." erklärte Shigeru Aoba von seinem Pult aus.
Der Hauptbildschirm zeigte nur ein Flammeninferno.

„Das kann niemand überlebt haben… die Hitze kann Stahl schmelzen… kein Mensch…" murmelte Makoto Hyuga. „Selbst Internet-Chuck Norris…"

„Da!" schrie Maya Ibuki. „Da links unten!"

In den Flammen öffnete sich eine Gasse, durch die der bärtige Mann schritt.
„Auftrag ausgeführt." erklärte er. „Und dafür habt ihr mich aus meinem Schönheitsschlaf geweckt?"

„Yay!" jubelte Maya. „Internet-Chuck Norris ist so… männlich!"

„Ich wäre gern so toll wie Internet-Chuck Norris!" erklärte Hyuga.

„Stimmt es, dass er in einem Stall geboren wurde, den er mit eigenen Händen gebaut hat?" fragte Aoba.

„Wenn ich groß bin, will ich wie Internet-Chuck Norris werden!" rief Shinji vom Eingang der Zentrale her – er trug Rei immer noch auf den Armen, die schwach atmete, jedoch hatte er sich auf der Suche nach einem Arzt hoffnungslos verlaufen.

„Ich auch!" rief Gendo mit glänzenden Augen vom Kommandostand her.

II.

Gendo Ikari gab einen frustrierten Seufzer von sich, als Captain Katsuragi endlich sein Büro verlassen hatte.

Sie hatte ihn und den Doktor gestört, und er hasste es, gestört zu werden...

Ikari drehte sich auf seinem Stuhl Akagi zu, sein Gesicht verriet immer noch keine Emotion, ebenso wenig wie seine Stimme, nur sein rechter Mundwinkel zuckte leicht.

„Ritsuko... auf die Knie..."

Anmerkungen des Autors:
Und so rollt die Handlung langsam an. Zu Beginn bewege ich mich noch sehr eng am Original und werde auch auf Weiteres mich an der Rahmenhandlung entlang hangeln.
Bedeutende Änderungen am Hintergrund von Rei und Asuka habe ich aber bereits angedeutet – Rei ist in dieser Geschichte aufgrund ihrer Engel-DNA ein „verbesserter" Mensch, schneller und stärker, was sich auch auf ihre Erholungszeiten von Verletzungen auswirkt, während Asuka weitaus größere Probleme mit sich herumträgt als in der Serie.
Auch Gendos Motivation ist anders, während Fuyutsukis Motiv immer noch die Befreiung Yuis ist. Shinjis Rückgrat ist etwas stärker ausgeprägt.
Und dann wären da meine Eigenschöpfungen – Wolf Larsen, Ann Larsen, Direktor Spender, ODIN, Jörg Peters und das PROPHET-Interface, auch wenn einige nur am Rand erwähnt werden. Jede Figur hat ihren Sinn. Das PROPHET-Interface wird noch öfters erwähnt werden, es stellt das (hier) von Naoko Akagi entwickelte Biocomputer-Interface dar, welches es überhaupt erst ermöglicht, die MAGI-Rechner und auch die EVANGELIONs betriebsfähig zu machen. Dass Wolf Larsen Charakterzüge anderer Figuren des SciFi-Genres aufweist, muss ich wohl auch nicht extra erwähnen, seinen Existenzsinn für die Geschichte erkläre ich, wenn es akut wird.
Die Pressesplitter sollen einen etwas tieferen Einblick in die Welt geben und wie Außenstehende auf das Geschehen reagieren.